Die Kinder von Avalon (German Edition)
Gesicht war wachsbleich. Und als Hagen in dieses Gesicht sah, blieb ihm das Herz stehen.
»Gunhild?«
Aber – das war nicht möglich. Heiß und kalt überlief es ihn, vor Freude wie vor Erschrecken. Seine Knie begannen zu zittern; er hatte das Gefühl, als würden all seine Knochen weich wie Wachs. Gunhild? Hier?
»Sie kommt mit unseren Eltern nach. Nach England«, hörte er in Gedanken Siggis Stimme. »Vielleicht können wir uns dann treffen, alle zusammen. Das wäre doch schön.«
Aber dies hier, dies war nicht England. Dies war die Anderswelt, Prydain, Annwn … was immer es auch sein mochte. Er hatte Gunhild in Sicherheit geglaubt. Er hatte versucht, überhaupt nicht an sie zu denken. Und jetzt – das hier.
Dann sah er das unmerkliche Heben und Senken ihrer Brust.
»Gunhild!« Der Speer fiel zur Seite, klapperte unbeachtet auf den Boden. Mit beiden Händen packte er sie, schüttelte sie. »Gunhild! Wach auf!«
»Gunhild! Wach auf!«
Wie aus einem unendlich tiefen, ewig dunklen Brunnen schwamm sie empor. So stark und fest hatte der Schlaf sie umfangen, dass sie nicht einmal geträumt hatte, oder sie konnte sich zumindest an nichts mehr erinnern. Nur noch an ein Gesicht, das eines alten Mannes, der sich über sie beugte.
Das Gesicht, das ihr jetzt vom Rande des Brunnens entgegensah, war fremd und wild: ein Schattengesicht, umrahmt von wirrem Haar, umlodert von Licht …
Sie schrie und wich zurück. Die Welt kippte wieder in die gewohnte Perspektive, und das Gesicht wich ebenfalls zurück, und in dem Licht, das von den Seiten auf Wangen, Stirn und Nase fiel, erkannte Gunhild vertraute Züge.
»H-hagen?«
»Gunhild, mein Gott, du lebst!«
Mit einem Satz war sie aus dem steinernen Kasten heraus, in dem sie gelegen hatte, und fiel ihm um den Hals. Sie schämte sich nicht, dass ihr Tränen in den Augen standen.
»Hagen, wie kommst du hierher? Ich habe gedacht, ich wäre hier ganz alleine. Bis auf den alten Mann natürlich, der mich hierher gebracht hat. Oh, Hagen, ich habe dich so vermisst. Warum hast du nie auf meine Briefe geantwortet? Hagen, bist du es wirklich?« Sie merkte, dass sie völlig durcheinander redete, aber es machte ihr nichts aus. Sie war nur froh, dass sie überhaupt etwas, überhaupt jemanden hatte, an den sie sich halten konnte.
Hagen tätschelte ihr ungeschickt den Rücken. Er schien genauso unter Schock zu stehen wie sie. »Tut … tut mir Leid, dass ich mich nicht gemeldet habe«, stammelte er schließlich. »Aber ich bin auch froh, dich zu sehen.«
Sie hielt ihn auf Armeslänge von sich fort. »Mein Gott, Hagen, wie siehst du aus? Was sind das für Kleider? Und wie bist du hierher gekommen?«
»Das ist eine lange Geschichte. Siggi und ich …«
»Siggi? Du hast Siggi getroffen? Ist er auch hier?«
Er zögerte. »Ja … und nein. Wir sind uns begegnet, in Cornwall, und es hat uns gemeinsam hierher verschlagen. Dir ist klar, dass wir hier in der Anderswelt sind, ja?« Sie nickte.
»Dann waren wir in einem gläsernen Turm und in der Höhle bei Brân …«
»Ich habe euch gesehen!«, rief Gunhild aus. »Im Traum«, fügte sie rasch hinzu, da ihr klar war, wie seltsam ihre Worte wirken mussten. »Ich sah euch an einem Tisch sitzen, und auf dem Tisch war dieser Kopf aus einer Art Metall, das lebte …«
»Das Haupt Brâns«, erklärte Hagen. »Oder zumindest, was davon übrig geblieben ist.«
»Oh«, sagte Gunhild, »ich kenne die ganze Geschichte. Von Brân und von seinem Feldzug nach Erin, um seine Schwester Branwen zu befreien, die mit diesem bösen König – ich habe den Namen vergessen, aber Taliessin kann sie dir erzählen.«
»Wer?«
»Taliessin. Tinker Tally, so nennen ihn die Leute. Der alte Mann, der mich hierher gebracht hat.« Sie sah seine Verwirrung und merkte, dass sie so nicht weiterkam. »Ich nehme an, er ist draußen am Strand. Schauen wir, dass wir hier rauskommen.«
»Ja, raus«, knurrte Hagen. »Das ist eine gute Idee. Ich habe nichts anderes versucht, seit ich hier in diesem Labyrinth gestrandet bin. Bis ich dich fand. Aber wenn du weißt, wo es hier ins Freie geht, umso besser.«
Sie sah verwirrt nach rechts und links. »Ich wusste gar nicht, dass es hier zwei Ausgänge gibt.«
»Durch die Tür da bin ich gekommen.« Er blickte auf seine Hände, und Gunhild sah, dass sie bluteten. »Dieser verdammte Riegel«, erklärte er. »Er ist auf der anderen Seite. Und der Gang endet blind.«
Diesmal verstand sie nicht so ganz, was er meinte. »Dann muss der
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