Die Kinder von Avalon (German Edition)

andere Gang der richtige sein«, stellte sie fest. »Gehen wir.«
    Sie sah, dass er etwas vom Boden aufhob, als sie sich die karierte wollene Decke um die Schultern schlang. Aber sie achtete nicht darauf. Sie hatte für den Augenblick genug an Rätseln. Der beengte Raum machte ihr Kopfschmerzen. Sie wollte nur noch hinaus.
    »Horch!«, sagte sie, als sie den Durchgang erreichte. »Hörst du das Meer?«
    Jetzt hörte Hagen es auch. Ein fernes, dumpfes Dröhnen, mit dem die Gischt gegen die Felsen schlug. Der Klang pflanzte sich durch das ganze Gestein fort. Dass er es bislang überhört haben sollte, wunderte ihn. Soweit ihn überhaupt noch etwas wundern konnte.
    Der Gang war steiler, als sie gedacht hatten. Die ersten Schritte führten noch steingehauene Treppenstufen hinab, doch dann wurden sie immer unregelmäßiger, bis der Boden nur noch aus Geröll zu bestehen schien. Auch die Seitenwände, weiter oben noch mit dem Meißel bearbeitet, wurden immer rauer und rissiger, bis man zwischen natürlich gewachsenen Felsen entlangging. Oder eher kletterte; denn sie mussten über Felsblöcke hinübersteigen. Manchmal ging es nur, wenn sie sich bei der Hand nahmen. Gunhild wunderte sich, wie der alte Mann es geschafft hatte, hier heraufzugelangen, wobei er noch alles Mögliche getragen hatte. Aber vermutlich hatte er sich hier ausgekannt …
    An einer Stelle wurde der Weg so schwierig, dass Hagen den Schaft seines Speeres zu Hilfe nehmen musste, um sich abzustützen. Gunhild hielt sich daran fest.
    »Gut, dass du diesen Stock dabeihast«, bemerkte sie.
    »Das ist kein Stock«, widersprach Hagen sanft.
    Ihre Hand zuckte zurück. Einen Moment flackerte ein irres Licht in ihren Augen auf, dann hatte sie sich wieder in der Gewalt.
    »Es ist der Speer, nicht wahr?«, sagte sie ebenso leise und mit Staunen in der Stimme. »Der Speer, den du in Erin geschmiedet hast.« Ihre Hand ging zu der Spitze mit ihrer langen Tülle, die durch drei Nägel mit dem Schaft verbunden war, aber sie berührte sie nicht ganz, sondern hielt unmittelbar davor inne.
    »Brân brachte ihn hierher, zusammen mit den anderen Schätzen von Erin«, erklärte Hagen. »Aber dann muss er irgendwie verloren gegangen sein. Ich kenne noch nicht die ganze Geschichte, aber ich hoffe, ich werde den Rest noch erfahren.«
    »Einen Augenblick lang dachte ich«, meinte Gunhild versonnen, »es sei jener andere Speer, der des Grauen Gottes, mit dem alles begann.« Sie schauderte bei dem Gedanken; es war alles so lange her. Aber das Bild verfolgte sie immer noch …
    Eine kristallene Grotte.
    Eine blutbefleckte Hand, die über den Boden kriecht, den Felsen rot färbt.
    Finger, die sich um einen schwarzen Schaft schließen.
    Eine Stimme. »Mein! Endlich mein!«
    Die Kristalle der Grotte klingeln. Ihr Klingeln steigert sich zu einem gläsernen Klirren, als die ersten von ihnen zu fallen beginnen. Die kristallene Grotte hat die Form eines riesigen, zähnebewehrten Rachens …
    Sie schüttelte den Kopf, um das Bild loszuwerden. Hagen sah sie an, als könnte er in ihren Augen lesen.
    »Manchmal glaube ich«, sagte er, »es ist ein und derselbe Speer.«
    »Komm«, brach Gunhild das Gespräch ab. »Keine Zeit für Philosophie. Wir müssen bald da sein.«
    Sie brauchten sich nur noch durch einen schmalen Spalt zu zwängen, da sahen sie über sich auch schon den freien Himmel. Es war nur ein Stück, denn der halbe Himmel wurde verdeckt durch die Kante einer Steilklippe, die sich wie die Falte eines riesigen Mantels über ihnen wölbte. Oben am Rand sah man grünes Gras wuchern, sonst war alles nur nackter Fels. Sie befanden sich in einer großen Grotte, einer Halbkuppel aus schwarzem Schiefergestein, welche die Gezeiten des Meeres aus dem Felshang ausgewaschen hatten. Wie abgesplittert sahen die Stufen der Wölbung aus. Das herausgebrochene Gestein war herabgestürzt, und soweit das Meer es noch nicht zermahlen und weggespült hatte, bedeckte es in scharfkantigen Platten und Brocken den Boden.
    »Ich kenne diesen Ort!«, rief Hagen aus. »Das sieht aus wie Merlin’s Cave …«
    »Die Merlinshöhle?«
    »Ja, so nennt man sie.« Erst jetzt wurde ihm klar, was er gesagt hatte. »Und wenn das stimmt, dann ist da vorne der Strand von Tintagel … Aber das ist unmöglich … Ich meine …« Er geriet ins Stammeln. »Gestern waren wir noch in Somerset. Dann können wir unmöglich heute an der äußeren Küste von Cornwall sein …«
    »Wir sind in der Anderswelt, vergiss das nicht! Aber es