Die Kinder Von Eden : Roman
mir«, sagte er.
Zitternd kniete er da. Er wagte es nicht, seine Augen wieder zu öffnen, weil er fürchtete, er könne Marios Seele gen Himmel fahren sehen.
Um seinen Geist zu beruhigen, rezitierte er sein Mantra: Ley, tor, pur-doy-kor … Es hatte keinen tieferen Sinn – und genau deshalb wirkte es beruhigend, wenn man sich fest darauf konzentrierte. Der Rhythmus war der gleiche wie der eines Kinderverses aus Priests Jugend:
Eins, zwei, drei-vier-fünf, ein Storch geht in die Sümpf.
Sechs, sieben, acht-neun-zehn, siehst ihn morgen noch dort stehn.
Wenn er sein Mantra vor sich hin murmelte, glitt er oftmals in den Kindervers über. Der funktionierte ebenso gut.
Während die vertrauten Silben ihn allmählich zur Ruhe kommen ließen, stellte er sich vor, wie der Atem in seine Nasenlöcher schlüpfte, durch die Luftwege in die Mundhöhle gelangte, die Kehle hinabsank und den Brustkorb dehnte, bis er schließlich die feinsten Verästelungen seiner Lunge durchdrang und die Rückreise antrat: Lunge, Hals, Mund, Nase, Nasenlöcher und zurück in die Luft. Wenn Priest sich voll auf seinen Atemweg konzentrierte, drang nichts Störendes in seine Gedanken: keine Visionen, keine Alpträume, keine Erinnerungen.
Wenige Minuten später stand er auf, kühl bis ans Herz, mit entschlossener Miene. Er hatte sich von jeglicher Emotion befreit, verspürte weder Reue noch Mitleid. Der Mord gehörte der Vergangenheit an, und Mario war nur noch ein Stück totes Fleisch, das er loswerden mußte.
Er hob seinen Cowboyhut auf, streifte den Schmutz ab und setzte ihn sich auf den Kopf.
Der Werkzeugkasten des Pickups steckte hinter dem Fahrersitz. Priest holte einen Schraubenzieher heraus, entfernte damit die beiden Kennzeichen und begrub sie weit draußen auf der Müllkippe unter einem schwelenden Haufen Unrat. Dann legte er den Schraubenzieher wieder in den Werkzeugkasten.
Er beugte sich über die Leiche und griff mit der rechten Hand nach dem Gürtel von Marios Jeans. Mit der Linken packte er eine Faustvoll von dem karierten Hemd. Dann hob er den Körper hoch und stöhnte auf, als er das Gewicht im Rücken spürte: Mario war schwer.
Die Tür des Pickups stand offen. Priest schwenkte die Leiche ein paarmal vor und zurück, um Schwung zu gewinnen, und warf sie dann mit großer Kraftanstrengung in die Fahrerkabine. Sie kam quer über der Sitzbank zu liegen; die Stiefel ragten zur Tür heraus, der bluttriefende Kopf hing in den Fußraum des Beifahrersitzes.
Die Rohrzange warf Priest der Leiche hinterher.
Nun wollte er Benzin aus dem Wagentank zapfen. Dazu brauchte er ein langes, schmales Stück Schlauch. Er öffnete die Motorhaube, suchte die Scheibenwaschanlage und riß den biegsamen Plastikschlauch ab, der den Wassertank mit den Düsen vor der Windschutzscheibe verband. Dann holte er sich die große Coke-Flasche, die ihm zuvor aufgefallen war, ging um den Wagen herum, schraubte den Tankdeckel ab, führte den Schlauch ein, saugte, bis ihm Benzin in den Mund lief, und steckte schließlich schnell das Schlauchende in die Flasche, die sich langsam mit Benzin füllte.
Als Priest schließlich mit der vollen Flasche zur Wagentür ging und den Inhalt über Marios Leiche goß, rann weiterhin Benzin durch den Schlauch auf den Boden.
In diesem Augenblick hörte er ein Auto näherkommen.
Priests Blick fiel auf die benzingetränkte Leiche. Wenn jetzt wer kam, hatte er keine Chance mehr: Seine Schuld ließ sich weder mit Worten noch mit Taten aus der Welt räumen.
Um seine starre Ruhe war es geschehen. Er fing an zu zittern. Die Plastikflasche entglitt seinen Fingern, und er kauerte sich auf den Boden wie ein furchtsames Kind. Bebend vor Angst starrte er auf den Pfad, der zur Straße führte. War irgendein Frühaufsteher auf dem Weg zur Müllkippe, um eine kaputte Geschirrspülmaschine loszuwerden? Ging es um ein Puppenhaus aus Plastik, für das die Kids inzwischen zu alt geworden waren? Oder sollten die altmodischen Anzüge eines verstorbenen Großvaters entsorgt werden? Das Motorengeräusch kam unaufhaltsam näher. Priest schloß die Augen.
Ley, tor, pur-doy-kor…
Das Geräusch entfernte sich. Das Fahrzeug war an der Abzweigung zur Müllkippe vorbeigefahren. Ganz normaler Straßenverkehr, sonst nichts.
Priest kam sich vor wie ein Idiot. Als er aufstand, gewann er seine Fassung wieder. Ley, tor, pur-doy-kor Doch der Schreck steckte ihm noch in den Gliedern, und er beeilte sich nun.
Ein zweites Mal ließ er die Coke-Flasche vollaufen
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