Die Kinder Von Eden : Roman
Buchstaben und jedes Komma auf eventuelle Rückschlüsse hin analysieren würde.
»Was halten Sie davon?« fragte er.
Judy dachte einen Augenblick nach, dann sagte sie: »Ich sehe einen verklemmten Studenten mit fettigem Haar, einem verwaschenen Guns-n‘-Roses-T-Shirt vor mir. Er hockt vor seinem Computer und bildet sich ein, die Welt würde von nun an nach seiner Pfeife tanzen, anstatt ihn, wie bisher, einfach zu übersehen.« »Also, falscher geht‘s kaum«, sagte Simon und lächelte, »Der Autor dieses Textes ist ein Mann in den Vierzigern, ohne höhere Schulbildung und ohne höheres Einkommen.«
Judy schüttelte verdutzt den Kopf. Die Schlüsse, die Simon aus Indizien zog, welche sie nicht einmal als solche erkannte, verblüfften sie immer wieder. »Woran erkennen Sie das?«
»Am Vokabular und am Satzbau. Da ist zunächst mal die Anrede. Wohlhabende Leute fangen einen Brief nicht mit ›Hallo!‹ an. Sie schreiben: ›Sehr geehrter Herr Gouverneur‹ oder so. Außerdem vermeiden College-Absolventen im allgemeinen doppelte Verneinungen wie nie … nichts‹.«
Judy nickte. »Demnach suchen Sie nach Hans Hilfsarbeiter, fünfundvierzig Jahre alt. Klingt eigentlich ganz einfach. Worin besteht das Rätsel für Sie?«
»Widersprüchliche Indizien. Andere Textelemente deuten eher auf eine junge Frau aus bürgerlichen Kreisen hin. Die Rechtschreibung ist einwandfrei. Das Semikolon im zweiten Satz verrät ein gewisses Bildungsniveau. Außerdem sprechen die vielen Ausrufezeichen eher für eine Frau – tut mir leid, Judy, aber so ist es nun einmal.«
»Und woher wissen Sie, daß sie jung ist?«
»Ältere Leute würden zumindest Begriffe wie › Gouverneur des Staates‹, ›Kalifornien‹ oder ›Kinder von Eden‹ groß schreiben. Auch die Benutzung von Computer und Internet spricht für eine jüngere Täterin mit besserer Ausbildung.«
Judy musterte Simon aufmerksam. Versuchte er ganz bewußt ihr Interesse an dem Fall zu wecken, damit sie ihre Kündigung zurücknahm? Wenn dem so war, hatte er sich verrechnet. Sie haßte es, einmal getroffene Entscheidungen wieder rückgängig zu machen. Dennoch war sie von dem rätselhaften Fall, den Simon ihr dargelegt hatte, unwillkürlich fasziniert. »Wollen Sie damit behaupten, diese Nachricht wäre von einem Menschen mit gespaltener Persönlichkeit geschrieben worden?« fragte sie.
»Nein. Alles halb so wild. Der Text wurde von zwei Personen geschrieben: Der Mann hat diktiert, die Frau getippt.«
»Raffiniert!« Allmählich formte sich vor Judys geistigem Auge ein Bild von den beiden Menschen, die hinter dem Drohbrief steckten. Mit einem Mal war sie gespannt und hellwach wie ein Jagdhund, der Beute wittert. Schon pulsierte die Vorfreude auf die Jagd durch ihre Adern. Ich kann diese Leute riechen. Ich will wissen, wer sie sind. Ich weiß genau, daß ich sie schnappen kann …
Aber ich habe ja gekündigt.
»Ich frage mich, warum er diktiert«, sagte Simon. »Bei einem Industriemanager, der daran gewöhnt ist, eine Sekretärin zu haben, wäre das absolut normal, aber der Bursche ist nichts Besonderes.«
Simon sprach, als messe er seinen Worten keine große Bedeutung zu und wolle bloß spekulieren, doch Judy wußte, daß seine Eingebungen oft fast genial waren. »Haben Sie eine Theorie dafür?«
»Vielleicht ist er ja Analphabet.«
»Er könnte auch bloß faul sein.«
»Stimmt auch wieder.« Simon zuckte mit den Schultern. »Ist nur so ein Gefühl.«
»Okay«, sagte Judy. »Da haben wir also das liebe College-Mädchen, das irgendwie in den Bann eines Ganoven geraten ist. Klein-Rotkäppchen und der große, böse Wolf. Wahrscheinlich ist sie in Gefahr – aber wer noch? Die Drohung mit einem Erdbeben kommt mir einfach an den Haaren herbeigezogen vor.« Simon schüttelte den Kopf. »Ich glaube, wir müssen sie ernst nehmen.«
Judy konnte ihre Neugier nicht mehr im Zaum halten. »Warum?«
»Wie Sie wissen, analysieren wir Drohungen dieser Art nach den Kriterien Motivation, Intention und Zielauswahl .«
Judy nickte. Das gehörte zum Grundwissen.
»Die Motivation ist entweder emotional oder funktional. Mit anderen Worten: Handelt der Täter so, weil es ihm einfach Spaß macht oder weil er etwas erreichen will?«
Für Judy lag die Antwort auf der Hand: »So, wie‘s aussieht, haben diese Leute ein ganz bestimmtes Ziel. Sie wollen, daß der Staat keine Kraftwerke mehr baut.«
»Genau. Und das heißt, daß sie im Grunde niemandem weh tun wollen. Sie hoffen, ihre Ziele
Weitere Kostenlose Bücher