Die Kinder Von Eden : Roman
werde zufällig Zeugin eines Raubüberfalls und kann nicht einmal aus dem Auto aussteigen, weil ich die Waffe daheim gelassen habe – ich käme mir vor wie eine Idiotin!
Die Pistole vom Typ SIG-Sauer P228 gehörte zur FBI-Standardausrüstung und war im Normalfall mit dreizehn Schuß 9-mm-Munition ausgestattet, aber Judy zog immer den Schlitten zurück, ließ die erste Kugel in den Lauf gleiten, nahm das Magazin wieder heraus und legte eine weitere Patrone ein, was unter dem Strich vierzehn Schuß bedeutete. Sie besaß außerdem eine Schrotflinte vom Typ Remington 870 mit fünf Kammern. Wie alle Agenten absolvierte sie einmal im Monat ihr Waffentraining, normalerweise auf dem Schießstand der Polizei in Santa Rita. Ihre Treffsicherheit wurde viermal jährlich überprüft, was ihr jedoch nie irgendwelche Schwierigkeiten bereitete, denn sie hatte ein gutes Auge, eine ruhige Hand und ein schnelles Reaktionsvermögen.
Bislang hatte sie allerdings, wie die meisten FBI-Kollegen, ihre Pistole ausschließlich im Training abgefeuert.
FBI-Agenten waren Ermittlungsbeamte, hochqualifiziert und gut bezahlt. Sie trugen keine Kampfanzüge. FBI-Agenten, die im Laufe einer fünfundzwanzigjährigen Karriere nicht in eine einzige Schießerei, ja nicht einmal in eine Schlägerei gerieten, besaßen durchaus keinen Seltenheitswert. Trotzdem mußten sie alle jederzeit auf einen Einsatz mit der Waffe gefaßt sein.
Judy verstaute ihre Waffe in einer Tasche, die sie sich über die Schulter hängte. Sie trug den ao dai, ein traditionelles vietnameisches Kleidungsstück mit kurzem Stehkragen und Seitenschlitzen. Es sah aus wie eine lange Bluse und gehörte zu weiten Flatterhosen. In ihrer Freizeit trug Judy gern solche Sachen, nicht nur, weil sie bequem waren, sondern auch, weil sie ihr besonders gut standen: Der weiße Stoff betonte ihr schulterlanges schwarzes Haar und ihre honigfarbene Haut, und die enganliegende Bluse schmeichelte ihrer zierlichen Figur. Im Büro trug sie so etwas praktisch nie – doch inzwischen war es später Abend geworden, und sie hatte ohnehin gekündigt.
Sie ging aus dem Haus. An der Bordsteinkante parkte ihr Chevrolet Monte Carlo, ein Dienstwagen, dem sie keine Träne nachweinen würde. Hatte sie sich erst einmal als Strafverteidigerin etabliert, konnte sie sich bestimmt etwas Aufregenderes leisten -vielleicht einen spritzigen europäischen Sportwagen wie einen Porsche oder einen MG.
Das Haus ihres Vaters lag im Stadtteil Richmond. Das war keine sonderlich feudale Gegend – ehrliche Bullen wurden nicht reich. Judy nahm den Geary Expressway zur Innenstadt. Die Stoßzeit war vorbei und der Verkehr nur spärlich, so daß sie das Federal Building schon nach wenigen Minuten erreichte. In der Tiefgarage stellte sie den Wagen ab und fuhr mit dem Fahrstuhl in den elften Stock.
Es war merkwürdig: Nun, da sie gekündigt hatte, strahlte die Behörde plötzlich eine gemütliche Vertrautheit aus, die sie geradezu nostalgisch stimmte. Der graue Teppichboden, die ordentlich durchnumerierten Zimmer, die Schreibtische, Aktenordner und Computer verrieten eine mächtige, gut ausgestattete Organisation voller Selbstvertrauen und Einsatzbereitschaft. Einige Angestellte machten noch Überstunden. Judy betrat das Dezernat für Asiatische Bandenkriminalität. Das Büro war leer. Sie knipste das Licht an, setzte sich an ihren Schreibtisch und startete ihren Computer.
Als Judy mit der Niederschrift ihres Lebenslaufs beginnen wollte, fiel ihr plötzlich nichts mehr ein.
Über ihr Leben vor dem FBI gab es kaum etwas zu sagen. Erwähnenswert waren nur die Schul- und Collegezeit und zwei langweilige Praktikumsjahre in der Rechtsabteilung des Versicherungskonzerns Mutual American. Was Judy niederschreiben wollte, war eine übersichtliche Darstellung ihrer zehn Jahre beim FBI, die deutlich machte, welche Erfolge und Fortschritte sie erzielt hatte. Doch statt eines gut gegliederten Textes brachte ihr Gedächtnis nur eine unzusammenhängende Folge von Erinnerungsfetzen hervor: Da war der Serienvergewaltiger, der ihr von der Anklagebank aus dafür dankte, daß sie ihn hinter Gitter gebracht hatte, weil er dort kein Unheil mehr würde anrichten können; da war eine Firma namens Holy Bible Investments, die Dutzende von betagten Witwen um ihre Ersparnisse gebracht hatte; und da war der Tag, an dem sie sich plötzlich mit dem bewaffneten Entführer von zwei kleinen Kindern allein in einem Raum befunden und den Mann dazu überredet hatte, ihr
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