Die Kinder von Erin (German Edition)
ein gewaltiges Schloss unter dem Meer, ein Kristallpalast, mit dem selbst das Märchenschloss aus Schneewittchen nicht konkurrieren konnte.
Neun Türme zählte sie, einer davon höher als der andere, bis sich der letzte oben im Dunkel verlor. Inmitten der Türme erhob sich ein gewaltiger Bau, dessen Grundriss mindestens achteckig war. Er bestand aus mehreren Stockwerken, und mit jeder neuen Etage änderte sich ihr Bild, bis eine gedrehte, zu vielfachen Fassetten geschliffene Spitze den Abschluss bildete.
Über dem gewaltigen Bauwerk wölbte sich kuppelförmig der Ozean, erfüllt von irisierenden Reflexen, dem Schimmer von Sternen in einer windigen, von Wolkenfetzen durchzogenen Nacht gleich, als wäre das Meer nichts anderes als ein verkleinertes Modell des Himmels.
Gunhild konnte keine Technik erkennen, die hier für frische Luft sorgte. Alles musste jenem zaubermächtigen Wesen gehorchen, das dies hier geschaffen hatte und bewahrte. Das war ein Paradies, ein Ort der Schönheit.
Wer etwas so Schönes und Einmaliges schaffen konnte, der konnte nicht gänzlich böse sein. Zwar war sie gewaltsam entführt worden, aber es mochte etwas völlig anderes dahinter stecken. Und, stellte Gunhild realistisch fest, sie hatte auch gar keine andere Wahl, als dem Unbekannten ins Auge zu blicken.
Also ging sie mit ihrer Eskorte weiter, auf ein breites Portal zu, dessen Türflügel aus den Panzern von Meerestieren gemacht zu sein schienen, welche in allen Farben schillerten.
Wie von Geisterhand wurde das Tor geöffnet. Es gab den Blick auf eine Halle frei, die Gunhild erneut den Atem stocken ließ. Der Boden der Halle sah aus wie ein Schachbrett, und das Mädchen konnte erkennen, dass das Muster aus Perlmutt war. Die Muscheln, aus denen diese Fliesen herausgeschnitten worden waren, mussten riesig sein. Das Muster setzte sich spiralförmig in den Säulen fort, welche die Decke des Saales stützten.
Erst als Gunhild die Halle betreten hatte, bemerkte sie eine Gruppe von jungen Frauen, die am Fuße einer weit geschwungenen Treppe stand und sie zu erwarten schien.
Die Frauen war in fließende, knöchellange Gewänder gehüllt, die an den Hüften von einem schmalen Gürtel zusammengehalten wurden. Und sie sangen ein Lied.
Die Worte waren nicht zu verstehen, aber in der Melodie lag Freude und Trauer zugleich; und plötzlich wusste Gunhild, wo sie eine solche Melodie schon einmal gehört hatte: Sie erinnerte an das Lied des Harfners, das sie aus dem Schlaf geweckt und mit dem alles angefangen hatte.
Als das Mädchen durch die Tür trat, kamen die jungen Frauen auf sie zu und eine von ihnen löste sich aus der Gruppe. Sie trug ein Diadem auf der Stirn, das ganz aus Perlen gemacht war, und an der Schließe, die ihr langes Gewand über der Brust zusammenhielt, funkelte es von Edelsteinen, in Silber gefasst. In ihrer Hand hielt sie eine Muschel mit Wasser. Doch als sie näher kam, roch Gunhild das Aroma von Seetang und einer unbekannten Süße und bemerkte eine leichte Grünfärbung des Getränks.
Die Einäugigen hatten hinter Gunhild einen Halbkreis gebildet und verneigten sich vor der jungen Frau, die auf sie zukam. Instinktiv machte Gunhild einen Knicks.
Die Frau trat zu ihr heran und hielt ihr die Muschel mit einer Bemerkung hin, die Gunhild nicht verstand. Aber die Stimme der Frau war von einer Sanftheit und Güte, die jeden Argwohn vergessen ließ.
Gunhild griff nach der Muschel und kostete davon.
Der Trank schmeckte nach Waldmeister und anderen Kräutern. Und Honig war auch unter den Zutaten. Das Getränk war erfrischend und süß zugleich. Aber da war noch mehr. Es schmeckte irgendwie ein bisschen nach dem Meer, der ungezähmten See. Doch welche Ingredienz diesen feinen Unterton hervorrief, vermochte Gunhild nicht zu ergründen.
Nachdem sie das Getränk für trinkbar befunden hatte, setzte sie an und nahm einen großen Schluck. Erst jetzt spürte sie, wie durstig sie war, und sie trank die Muschel ganz leer.
Und plötzlich verstand sie die Worte des Gesangs.
»Es liegt eine Insel unter dem Meer,
Um die herum sich die Seepferde tummeln,
Gewiegt von weiß-schwellender Wogen Glanz,
Überspannt von des Bogens Schimmer.
Dort glänzt vielfältiger Farben Pracht,
Und süße Musik erklingt allezeit.
Kummer und Leid sind dort unbekannt,
An dem Ort, wo die Frauen weilen …«
»Willkommen in Tir fa Thonn, dem Land unter der Welle«, erklang eine warme, weiche Stimme.
Verstört blickte Gunhild auf und sah sich der lächelnden
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