Die Kinder von Erin (German Edition)
zu.
Die hereinbrechende Dämmerung schränkte den Blick, der in dieser nebligen Luft ohnehin begrenzt gewesen war, noch weiter ein. Doch Gunhild hatte kaum noch Sinn für die Umgebung. Ihre ganze Aufmerksamkeit war darauf gerichtet, von ihrem schwankenden, unsicheren Sitz nicht herunterzufallen.
Erst als ihre Träger anhielten und die Schaukelei aufhörte, schreckte Gunhild wieder auf. Vor ihr hörte sie ein gleichmäßige Branden von Wellen an einen Strand. Es musste das Gestade eines Ozeans sein.
Der Wind war stärker geworden, strich nun über die offene Fläche des Strandes und trieb den Sand der Dünen mit sich. In der fahlen Düsternis hob sich das Meer dunkel von dem helleren Sand ab; nur die Schaumkronen leuchteten wie phosphoreszierende Streifen.
Weit rechts von sich glaubte Gunhild eine hellen, flackernden Punkt zu erkennen, als brenne dort ein kleines Lagerfeuer. Gunhild sehnte sich nach einem Feuer, nach Wärme und Licht, und sie fragte sich, wer es wohl entzündet hatte und sich an den Flammen wärmte.
Fast gewaltsam riss sie den Blick von dem fernen Feuerschein los und wandte sich wieder dem dunklen, bedrohlich wirkenden Gestade zu. Ein vor ihr aufragender Schatten entpuppte sich als ein großer Steinhaufen, wie ein Mahnmal für einen Helden aus grauer Vorzeit. Drei weitere, schlankere Steine, halb im Sand vergraben, wiesen in Richtung des Strandes. Und dahinter begann der Ozean.
Schwarz und geheimnisvoll brandete ihr das Meer aus der Tiefe entgegen. Wenn man die Augen schloss, glaubte man fast einen Rhythmus in den Wellen erahnen zu können, aber er blieb fremd, unmenschlich wie die schattenhaften Kreaturen, die sie umgaben. Sehnsucht nach dem schwachen Licht des Feuers packte das Mädchen, aber als es wieder hinsah, war das Licht nicht mehr da, war verloschen oder ausgelöscht worden oder von dem alles überlagernden Nebel verschluckt.
Gunhild fühlte sich vorsichtig abgesetzt. Sie spürte den kalten Sand unter ihren Füßen. Abwärts ging’s, dem Meer zu. Der Abhang der Dünen zum Meer war steil, aber die stützenden Hände ihrer Begleiter verhinderten, dass sie ins Straucheln kam.
Plötzlich platschte sie ins Wasser. Zur ihrer Überraschung war das Wasser nicht kalt, sondern fühlte sich angenehm warm an.
Sechs der einäugigen Wesen traten vor, legten Waffen und Schilde nieder. Sie fassten sich bei den Händen und bildeten, knietief im Wasser stehend, einen Kreis. Dann begannen sie mit tiefer Stimme zu rufen, in einer Art Sprechgesang.
Gunhild verstand kein Wort dessen, was die sechs sangen, aber es schien ihr, als wäre es eine Beschwörung. Wer oder was beschworen wurde, das konnte das Mädchen nicht verstehen. Aber etwas im Tonfall brachte eine Saite in ihr zum Klingen; doch was es war, vermochte sie nicht zu sagen.
»Manannaaan!«, endeten die beschwörenden Rufe der Einäugigen, und gleich darauf öffneten die sechs den Kreis und sanken auf die Knie. Die übrigen taten es ihnen gleich. Ohne dass es Gunhild eigens gesagt oder gezeigt werden musste, kniete sie ebenfalls nieder.
Daraufhin begann die Beschwörung von vorn. Immer noch eigenartig berührt, folgte Gunhild den Blicken der Einäugigen, die aufs Meer gerichtet waren. Aber sie konnte nichts erkennen.
»Manannaaan!«, so endete auch der zweite Gesang.
»Manannaaan!«, fielen die übrigen ein. Ohne dass es ihr bewusst geworden war, hatte auch Gunhild instinktiv in den Ruf eingestimmt.
Zunächst geschah nichts. Aber dann kam aus den Tiefen des Meeres ein fahles Leuchten, das die Umgebung in ein ungewisses Licht tauchte. Was danach geschah, hielt Gunhild im ersten Augenblick für eine optische Täuschung, für einen Streich, den ihr ihre Augen spielten.
Sie blinzelte, um in dem matten Licht aus der Tiefe mehr zu erkennen. Aber es war Tatsache, was sie sah: Das Wasser begann sich zurückzuziehen. Nicht so wie bei Ebbe; nein, eher wie bei Moses in der Bibel, als sich das Rote Meer teilte. Der Ozean gab den Weg in die Unterwelt frei.
Auf einem gut zehn Meter breiten Streifen begann sich eine Art Straße in das Meer zu öffnen. Das Wasser wurde zu einer Mauer. Gunhild sah nach rechts und links und konnte sehen, was sie kaum glauben konnte. Wo eben noch Wasser war, lag jetzt der Sand und weiter hinten der Meeresboden trocken, als wäre das völlig natürlich.
Wer hatte so gewaltige Kraft, dem Ozean in dieser Form zu gebieten? Nur ein Gott oder ein Wesen mit einer vergleichbaren Macht war in der Lage, das Meer zu teilen. Gunhild
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