Die Kinder von Erin (German Edition)
Frau gegenüber. Sie war schön, von einer Schönheit, die etwas Übernatürliches, ja, Übermenschliches hatte. Das Gesicht war schlank, die Wangenknochen setzten hoch an. Ihre Nase war nicht zu groß und nicht zu klein. Der Mund war fein geschwungen. Das Gesicht wurde von haselnussbraunen Haaren umrahmt, die bis auf die Schulter fielen. Aber es waren vor allem die Augen, die den Blick unwiderstehlich anzogen: mandelförmig, groß, mit grünen Pupillen, in denen sich das Licht brach.
»Wo bin ich?«, fragte Gunhild irritiert.
»Auf der Insel unter dem Meer«, erklärte die Frau mit einem Lächeln. »Ich bin Brigid, die Tochter des guten Gottes.«
»Wieso verstehe ich dich?«, fragte Gunhild.
»Wer in die Anderswelt kommt und isst oder trinkt, der geht dann ganz in diese Welt über. Er wird ein Teil davon. Und darum verstehst du unsere Sprache.«
»Seid ihr Gefangene?«, fragte Gunhild, die froh war, wieder mit jemand sprechen zu können. Bei dieser Frage warf sie einen verstohlenen Seitenblick auf ihre einäugigen Entführer.
Das Lächeln der Frau war beinahe amüsiert. Mit einer Mischung von Bewunderung und Zuneigung sah sie auf die Kreaturen, die Gunhild und Hagen durch den Park gehetzt hatten.
»Die Fomorier sind unsere Verbündeten«, erwiderte sie. »Wir leben hier unter dem Schutze Manannán Mac Lirs.«
»Jetzt begreife ich gar nichts mehr. Diese … diese Wesen haben mich mit Gewalt hierher verschleppt, sie haben meinen Freund Hagen und mich gehetzt und … und …«
»Es ist nicht so schlimm, wie es dein Herz vielleicht sagt«, wurde Gunhild geantwortet. »Alles wird sich erklären.«
»Wann? Wie?«, fragte Gunhild.
»Der Herr dieses Ortes wird es dir sagen. Folge mir; ich bringe dich zu ihm.«
Gunhild nickte nur und heftete sich an die Fersen der jungen Frau, die mit ihr die geschwungene Treppe hinaufging. Der Perlmuttbelag war kühl und glatt unter den nackten Füßen; es war ein eigenartiger Reiz, auf diesem kostbaren Material zu gehen.
Am Absatz der Treppe angelangt, erreichten sie einen breiten Korridor, dessen Wände aus Glas bestanden. Durch das harte, durchscheinende Kristall blickte man wie in ein Aquarium, in dem sich die Tiere des Meeres tummelten. Schulen von Fischen zogen vorbei, glitzernd in dem Schein des Lichts, das von den Türmen der Stadt ausging. Dann schob sich eine hellere Gestalt dazwischen, langgezogen, mit scharfen Finnen; einen Augenblick lang blitzte der helle Bauch auf, der Halbmond des Maules, gesäumt von spitzen Zähnen. Ein Hai? Ehe Gunhild es hätte sagen können, war der Jäger wieder im Dunkel verschwunden. Und dann sah sie den größten Schatten von allen, groß wie ein Haus. Ein Wal – aber so groß konnte ein Wal nicht sein! Es musste sich um den Urvater aller Wale handeln, von dem sie in einem alten Sagenbuch gelesen hatte, der den Seefahrern wie eine schwimmende Insel im Meer erschienen war. Und er sang, ein tiefes, wortloses Lied, das die kristallenen Scheiben des Ganges erzittern ließ.
Gunhild machte, dass sie weiterkam. Doch irgendwie, dachte sie, passte das alles nicht zusammen. Da wurde sie mit Gewalt in die Anderswelt entführt, nur um an diesen Ort der Wunder zu gelangen, wo selbst Jäger und Beute in Frieden zu leben schienen.
Und merkwürdig war es schon, dass sie hier offensichtlich erwartet worden war.
Doch die Wunder des Palastes aus Perlmutt und Kristall lenkten sie immer wieder ab. Schnell verlor sie die Orientierung; denn sie achtete nicht darauf, wohin ihr Weg sie führte, sondern hatte nur Augen für die Schönheit der Umgebung.
Einmal konnte sie einen Blick aus dem Fenster erhaschen, und in der Tat war das Meer wie der Himmel über der Erde oder der Anderswelt. Die seltsame blaugrüne Färbung verlieh ihm ein wunderbares Aussehen.
Da sah sie die Seepferde.
Sie waren wie wirkliche Pferde, nur dass sie die Tiefen des Meeres durchpflügten, statt über trockenes Land zu galoppieren. Ihre Bewegungen waren kraftvoll und zugleich von einer schwerelosen Anmut. Mähnen und Schweife wallten hinter ihnen her wie vom Wind bewegt, nur dass es hier keinen Wind gab. Die langen Schläge ihrer mit Schwimmhäuten bewehrten Füße trieben sie voran. So umkreisten sie einander, spielerisch, wie in einem Reigen, Jäger auf einer endlosen Jagd, Sucher ohne Ziel.
Fast wie ich, denn auch ich weiß nicht, was mich hier noch erwartet, schoss es Gunhild durch den Kopf. Auch ich strebe einem unbekannten Ziel zu.
Ihr Weg führte nun nach oben, einer langen
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