Die Kinder von Erin (German Edition)
erschauerte. Wer oder was auch immer diese Straße in die Tiefe geöffnet hatte, musste unvorstellbare Kräfte besitzen.
Die Einäugigen erhoben sich und setzten sich in Bewegung. Gunhild schluckte, aber innerlich hatte sie resigniert; denn wer das Meer teilen konnte, der würde über den Fluchtversuch eines Mädchens nur lachen können. Und dann waren da noch diese Diener, denen sie ja auch nicht entkommen konnte. Ganz klar, sie musste mit.
Zugleich regte sich aber in ihr auch etwas wie Neugier. Was erwartete sie da unten? Etwas in ihr, die Abenteurerin, wollte ergründen, was am Boden der See auf sie wartete. Das Unbekannte lockte, zog sie magisch an.
Der Sand unter ihren Füßen war völlig trocken; das Wasser hatte sich vollständig zurückgezogen. Die Wasserwände zur Rechten und zur Linken türmten sich mittlerweile hoch über ihren Kopf. Der Anblick war so fantastisch, dass ein Gefühl von Gefahr zunächst überhaupt nicht aufkam.
Der Sand wurde zu Kies, der in eine gepflasterte Straße überging. Doch es war kein richtiges Kopfsteinpflaster, sondern bestand aus ineinander verschränkten sechseckigen Feldern aus einem dunklen, vermutlich vulkanischen Gestein. Und als der Weg sich zu senken begann, erkannte sie, dass dies nur die Oberflächen von langen Säulen waren, die in die Tiefe führten, wie eine Treppe, deren Stufen in Urzeiten für Riesen geschaffen worden war.
Gunhilds bloße Füße tappten über den Stein, und auch er war, wie das Wasser und der Sand, angenehm warm anzufühlen. Es war, als wäre da eine Fußbodenheizung. Der Gedanke war so absurd, dass sie unwillkürlich grinsen musste.
Rechts und links war nichts zu erkennen; die dunkle Flut, die wie eine gläserne Mauer zu ihren Seiten stand, verdeckte alles. Hoch oben, wo anfangs noch ein Streifen Himmel zu sehen gewesen war, in seiner fahlen Gräue nur wenig heller als das Meer, waren nun Wasser und Luft zu tintiger Schwärze verschmolzen. Gunhild hatte das Gefühl, durch einen Tunnel zu gehen, der sich immer weiter verengte. Wäre das Licht nicht gewesen, das ihnen aus der Tiefe entgegendrang, sie hätte keinen Schritt mehr tun können.
So aber ging sie tapfer weiter, den Blick auf die Füße gerichtet; denn sie musste darauf achten, auf den sechseckigen Stufen nicht den Tritt zu verlieren, und sie hatte das Gefühl, wenn sie auch nur einmal ausrutschte, würde alles über sie zusammenbrechen, die ganzen tausende und abertausende Tonnen von Wasser, die über ihr lasteten. Natürlich war dies ein absurdes Gefühl; denn wer auch immer sie hierhergeführt hatte, würde sie nicht einfach ihrem Schicksal überlassen, ohne ihr zumindest ein paar Fragen zu stellen – und vielleicht auch ein paar zu beantworten.
Sie blickte erst wieder auf, als ihre Begleiter rings um sie her anhielten.
Vor ihnen erhob sich ein Tor.
Es war aus Bronze gefertigt, grün vom Alter und den Salzen des Meeres, und es verlor sich nach oben in der Dunkelheit. Rechts und links war es gesäumt von zwei mächtigen Pfeilern aus Stein, die seltsame Gravierungen trugen – Zeichen einer unbekannten Schrift, die aus langen Linien mit Reihen von Querstrichen bestand. Doch sie waren so sehr von Muscheln und Algen überkrustet, dass es Gunhild nicht möglich gewesen wäre, sie zu deuten, selbst wenn sie die Schrift hätte lesen können.
Das Tor selbst war schmucklos bis auf einen großen runden Buckel in der Mitte, eine Art Schild, der jenes Symbol von drei umlaufenden Beinen trug, das Gunhild bereits kannte. Der Anführer der Gruppe hob seine schwere bronzene Keule und schlug damit gegen den Schild. Es dröhnte wie ein riesiger Gong.
Ringsum kamen die Wasserwände in Bewegung, als sich die Schallwellen durch die Steinpfeiler fortpflanzten. Noch ehe die Wellenfront verebbte, tat sich das Tor vor ihnen auf.
Licht flutete heraus. Halb geblendet trat Gunhild mit ihren Begleitern hindurch, und als ihre Augen sich an die Helligkeit gewöhnten, sah sie auf, und ihr stockte der Atem.
Vor ihr lag eine Stadt.
Das Leuchten schien aus den Mauern und Türmen selbst heraus zu kommen, die sich vom Grunde des Meeres aufschwangen, und an manchen Stellen brach sich das Licht zu einem Prisma in allen Farben des Regenbogens: rot und orange; gelb, grün und blau; indigo und violett. Es war wie auf den teuren Gläsern ihrer Mutter, die, als Siggi und sie noch kleiner waren, sorgfältig vor Kinderhänden verschlossen waren.
Kristall!, schoss es Gunhild durch den Kopf. Das ist Kristall.
Es war
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