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Die Kinder von Erin (German Edition)

Die Kinder von Erin (German Edition)

Titel: Die Kinder von Erin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut W. Pesch
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Wendeltreppe folgend, die wie das Gehäuse einer riesigen Schnecke wirkte. Schließlich langten sie vor einem gewaltigen Portal an, das aussah, als wäre es mit Fischschuppen überzogen. Es glänzte, als würde sich das Licht auf der Haut eines Lachses brechen, der aus der Gischt eines schäumenden Wildbaches emporschnellte.
    Sie waren noch zehn Schritte davon entfernt, als das Tor aufschwang. Es gab den Blick frei auf ein Wunder der Architektur.
    Ein Saal tat sich ihnen auf, achteckig, gesäumt von vier weißen und vier schwarzen Säulen im Wechsel, die eine mächtige Kuppel stützten. Hohe Fenster ließen Licht ein und gaben den Blick frei auf die Meerestiefen. Das Licht wurde von den geschliffenen Kristallen reflektiert und warf Schauer von farbigen Spiegelungen auf den Boden.
    Erst jetzt ging Gunhild auf, dass es gar keine offensichtliche Lichtquelle gab. Hier unter dem Meer gab es keine Sonne, aber sie hatte auch keine Lampen oder Ähnliches gesehen.
    Doch ehe sie sich nähere Gedanken darüber machen konnte, fiel ihr Blick auf das seltsame Objekt, das sich im Zentrum des Raumes erhob. Dort stand auf einem Podest, einer grob behauenen Steinsäule, die mit eingehauenen Spiralen und verschlungenen Bändern verziert war, der Kopf eines Fomoriers.
    Im ersten Augenblick hielt sie es für einen Scherz, und zwar einen schlechten. Dass man Feinden den Kopf abschlug, nun gut, das mochte in einer primitiven Kultur vorkommen. Aber ihn dann auch noch auf einem Sockel zur Schau zu stellen zeugte von einem ziemlich makabren Geschmack.
    Dann sagte sie sich, dass das Ding bestimmt nicht echt war; aber für eine Nachbildung war der Kopf zu perfekt: die grüne Haut, die lange Schnauze, die Hauer rechts und links und das eine, alles beherrschende Auge.
    Wie unter Zwang trat sie näher. Das Auge wurde von einem Deckel aus irisierendem Silber verschlossen, bedeckt von fein ziselierten Ornamenten. Und als Gunhild einen weiteren Schritt darauf zu machte und noch einen, überlief es sie wie ein Schauder. Denn sie erkannte, dass dieser abgetrennte Kopf keineswegs tot war. Er atmete. Er lebte.
    Es gab nur eine Möglichkeit, sich Gewissheit zu verschaffen. Gunhild streckte ihre Hand aus, um nach der silbernen Kappe zu greifen, die das Auge des Fomorier bedeckte.
    »Das würde ich nicht tun«, sagte Brigid, ihre Begleiterin.
    »Warum nicht?«, fragte Gunhild, ohne den Blick von dem Haupt zu lösen. »Was ist das?«
    »Das ist das Haupt Balors, des Königs der Fomorier.«
    »Warum ist sein Auge bedeckt?«, fragte Gunhild.
    »Wenn es geöffnet wird«, antwortete eine andere, tiefere Stimme aus dem Hintergrund des Raumes, »ist sein Blick tödlich.«
    Nur mit einer geradezu unmenschlichen Willensanstrengung gelang es Gunhild, sich vom Anblick des Kopfes loszureißen. Sie sah zu dem Sprecher hinüber, der an einem der Fenster stand und aufs Meer hinaus sah.
    »Wer seid Ihr?«, fragte Gunhild.
    Die Gestalt am Fenster wandte sich um. Ein weiter, grünblauer Mantel wallte in der Bewegung, in einem fließenden Farbenspiel, das die Sinne verwirrte – mal grün, mal blau, mal von einer dritten, undefinierbaren Farbe wie das Meer unter dem Himmel, wenn eine Wolke sich vor die Sonne schiebt.
    Das Gesicht des Mannes war alt und ewig jung zugleich. Der Wind des Ozeans hatte tiefe Furchen in dieses Gesicht gegraben, die Sonne seine Haut gegerbt. Frost versilberte die Spitzen seines Bartes und die buschigen Brauen, legte sich als ein Schimmer um Schläfen und Nacken. Und dennoch hatte das Alter nie dieses Antlitz berührt. Uralt allein war die Weisheit, die sich in den Augen spiegelte, tiefen Teichen von der Farbe des Meeres.
    »Ich bin Manannán Mac Lir, der Herr der Insel.«
    Es verschlug Gudrun die Sprache. Gewiss, sie hatte so etwas erwartet, aber dem Gott, der dieses ganze Wunderwerk unter dem Meer bewirkte, Auge in Auge gegenüberzustehen war nun doch eine ganz andere Sache.
    »Komm her«, winkte er.
    Sie tat einen Schritt auf ihn zu, und dann sah sie noch etwas anderes im Blick dieser meergrünen Augen. Eine Traurigkeit, eine tiefe Schwermut und eine Erschöpfung, die nicht aus einer einzigen menschlichen Lebzeit geboren war, sondern aus langen Jahrhunderten von Kämpfen, Siegen und Niederlagen, an deren Ende die Niederlagen überwogen hatten.
    »Dann seid Ihr der Gott, der diesen Zauber hier bewirkt?«, fragte Gunhild. Sie hatte so viele Fragen, die ihr auf der Seele brannten. »Aber warum –?«
    Manannán unterbrach sie mit einer Geste. »Wir

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