Die Kinder von Erin (German Edition)
Schatten. Ein vorspringender Ast, wie es schien.
»Hier ist ein Seil. Versuch, es über den Ast zu werfen«, sagte Amergins Stimme an seinem Ohr. »Vorsicht, am Ende ist eine Sichel. Ich musste es mit irgendetwas beschweren«, fügte er fast entschuldigend hinzu.
Klar, dachte Siggi. Eine Sichel. Wie bei Asterix und Obelix. Druiden haben immer eine Sichel dabei. Trotz ihrer misslichen Lage konnte er nur mit Mühe ein Kichern unterdrücken.
Beim ersten Mal verfehlte er den Ast und musste sich vor der herabsausenden Sichel in Sicherheit bringen. Dann verhakte sich die Sichel irgendwo im Geäst, aber die Äste schwankten so sehr, dass es unmöglich war, daran hochzuklettern, und zu gefährlich, da die Befestigung sich jederzeit lösen konnte. Erst nach mehrmaligem Rütteln und Zerren kam das Seil wieder frei. Mittlerweile reichte ihnen das Wasser schon bis zur Brust, und Amergin musste Siggi am Gürtel festhalten, damit er nicht fortgespült wurde.
Der dritte Wurf war perfekt. Das Geschoss flog in hohem Bogen empor, beschrieb eine elegante Kurve und landete auf dem Rückschwung mit der Spitze unmittelbar oberhalb von Siggis Kopf in der Rinde des Baumes.
Siggi machte die Sichel los, verknotete das Seil mit einer Schlaufe und zog es fest. Dann machte er sich an den gefährlichen Aufstieg.
Vorsichtshalber hatte er die Lederschuhe ausgezogen und in den Gürtel gesteckt. Die Rinde der uralten Eiche war glitschig vom Regen, doch ihre Furchen waren tief, sodass er mit den Zehen Halt darin fand.
Als er die Astgabel erreicht hatte, legte er sich schwer atmend mit dem Oberkörper voran hinein. Noch immer schwindelte ihm der Kopf. Er fühlte sich ausgepumpt wie noch nie in seinem Leben.
»Zieh mich rauf!«, kam die Stimme Amergins von unten. Das Wasser musste dem kleinen Mann inzwischen bis zum Hals stehen.
Seufzend begann Siggi das Seil Hand über Hand einzuholen. Nachdem auch der Druide, nass wie eine Katze, den rettenden Ast erreicht hatte, stiegen sie gemeinsam noch ein Stück höher, bis sie eine größere Gabelung fanden, wo sie sitzen konnten, ohne Gefahr zu laufen, bei der leisesten Bewegung wieder herunterzufallen. Dort erwarteten sie frierend und müde, aber zu erschöpft, um wirklich zu schlafen, den nahenden Morgen.
Es scheint das Schicksal von Schamanen zu sein, immer irgendwann in einem Baum zu enden, ging es Siggi durch den Sinn. Hatte nicht auch Odin, der Göttervater, im Baum gehangen, neun Tage und neun Nächte? Wahrscheinlich hatte er sich festgebunden, um nicht herunterzufallen.
Was gar keine so schlechte Idee war. Siggi holte das Seil ein und wickelte es paar Mal um die Astgabel, bis er sich eine Art Hängematte gebaut hatte.
Irgendwann musste er dann doch eingenickt sein, denn als er die Augen aufschlug, war es heller Tag. Die Vögel zwitscherten. Hoch über den Baumkronen war der Himmel blau, als hätte ihn nie eine Wolke getrübt.
Unten gurgelte noch das schmutzigbraune Wasser, aber der Pegel war schon merklich gefallen. Nicht mehr lange und sie würden den Abstieg wagen und weitermarschieren können, ohne sich mehr als nasse Füße zu holen.
Siggi zog das Schwert aus der Scheide und betrachtete es. In dem klaren Licht des neuen Tages glänzte es, als wäre es nie auf dem Schlachtfeld gewesen.
Amergin, der wie ein großer bepelzter Vogel ein Stück höher in einer anderen Baumgabelung saß, beobachtete ihn mit halb geschlossenen Lidern.
»Eines würde mich noch interessieren«, sagte Siggi, als er in Gedanken noch einmal die Ereignisse des letzten Tages an sich vorbeiziehen ließ.
»Hmh«, machte Amergin. Es war weder eine Aufforderung noch eine Abfuhr.
»Wenn dieses Schwert auf dem Schlachtfeld verloren ging«, fuhr Siggi fort, »wer hat dann den Stein aufgestellt und die Inschrift verfasst? Ich meine, wenn man wusste, wo es lag, warum hat man es dann nicht längst geborgen?«
»Die Inschrift?« Amergin zuckte die Achseln. »Wer wohl? Ich natürlich.« Er erhob sich. »Schauen wir, dass wir weiterkommen.«
Der Abstieg gestaltete sich unproblematisch. Nachdem sie eine Zeit lang durch fast hüfttiefes Wasser gewatet waren, erreichten sie schließlich höheren Grund, und auch wenn der Boden immer noch schlammig war, kamen sie jetzt besser voran. Es gab keinen richtigen Weg durch den Wald, auch wenn sie mitunter Pfade fanden, die entweder von wilden Tieren oder von Jägern gebahnt worden waren. So wand sich ihr Weg mal hierhin und dorthin, aber im Großen und Ganzen ging es, wie Siggi
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