Die Kinder von Erin (German Edition)
wollte er rufen und dann noch einmal, aber diesmal als Frage: Hagen? Plötzlich kamen ihm Zweifel. War dies wirklich Hagen? Der Hagen, den er kannte, war geschickt gewesen und klug, fast schon ein wenig gerissen, aber das hier war ein junger Krieger, mit muskulösen Armen, und auch das Haar war ein wenig zu lang und …
Dreh dich um, dreh dich doch um, damit ich dein Gesicht sehen kann!
Doch der Mann am Tisch tat ihm den Gefallen nicht. Dann fiel ein Schatten über ihn und ein weiterer, und eine helle Stimme rief: »Komm, Cúchullin, komm! Auf in den Kampf!«
Das Bild verschwamm in einem Wirbel von Bewegung, und er flog. Er flog, wie ein großer Vogel fliegt, ein Seeadler. Die Ebene glitt unter ihm hinweg, und er wusste, dass er gen Westen flog. Es war Nacht, doch seine Augen waren scharf wie nie zuvor und durchdrangen die Finsternis. Irgendwo in der Ferne hörte er das Meer.
Er sah das Licht auf dem Turm der Festung, ehe er die Mauern selbst wahrnahm, ein gedrungenes, zyklopisches Bauwerk aus riesigen Quadern. Kein wärmender Schein drang aus den dunklen Fensterschlitzen, doch auf der obersten Plattform sah er drei Gestalten, die sich um einen Kessel scharten.
»Das war ein mächtiger Sturm, den unser junger Schützling hier entfacht hat«, sagte die eine. Es war eine junge Frau, die trotz des Windes und der Kühle der Nacht in ein dünnes, wallendes Gewand gekleidet ging. Silber glänzte auf ihrer Brust, und Perlen schimmerten in ihrem langen, dunkelblonden Haar.
»Die Erde wird tief davon trinken und neue Frucht hervorbringen«, sprach die zweite. Sie hatte die breiten Hüften und vollen Brüste einer Matrone, die schon Kinder geboren und gesäugt hatte. Sie ging in selbstgewebtes Leinen gekleidet, Bronze blinkte an ihrem Hals und an ihren Armen, und ihr erdbraunes Haar, wenngleich noch voll, zeigte bereits die ersten weißen Strähnen.
»Ein Sturm, den man bis Ulad hören wird«, kicherte die dritte, ein uraltes Weiblein, gebeugt von der Last der Jahre. Ihr Haar war schlohweiß, ihr Gesicht von Falten durchfurcht, und ihre Hände waren wie knorrige Äste, knotig und verkrüppelt vom Alter. Ihr Gewand war schwarz wie die Nacht, löchrig und ohne jeden Schmuck bis auf den goldenen Reif, der an ihrem Hals blinkte. Der Blick ihrer Augen war hell und scharf.
Und da war noch eine vierte Gestalt bei ihnen, die das scharfe Auge des Adlers zuvor nicht gesehen hatte. Ihr Haar war hell wie der Sommerweizen, und war da nicht ein langer Zopf, der über die Schulter wippte …?
Gunhild!, wollte Siggi rufen, doch in diesem Augenblick entschwand das Bild.
Und dann sah er aus großer Höhe auf etwas Helles hinab, ein Rechteck, das langsam größer wurde. Und je schneller er darauf zustürzte, umso mehr Einzelheiten konnte er erkennen. Es war ein Bett, und auf diesem Bett lag jemand. Er hatte die Bettdecke weggestrampelt, und seine bloßen Beine schauten heraus. Sein hellblonder Schopf lag schweißgetränkt auf dem Kissen.
Seltsam, dachte Siggi, da bin ich nun in einem Traum, und in dem Traum träume ich, dass ich mir dabei zusehe, wie ich träume. Und mit einem Mal wusste er, sobald der wilde Sturzflug seines Geistes mit dem Schlafenden auf dem Bett zusammentreffen würde, dann würde er aufwachen, und alles wäre vorbei –
»Nein, nein!« Er schlug um sich. Seine Hand platschte in kaltes Wasser.
Wasser? Wieso Wasser? Wo war er?
»Ganz ruhig.« Aus den wabernden Nebeln, die ihn umgaben, schälte sich Amergins Gesicht. »Komm, steh auf! Wir müssen hier raus.«
»Was?« Siggi richtete sich auf. Es war immer noch dunkel. Ihm schmerzte der Kopf. Der Regen schien aufgehört zu haben, oder seine Ohren hatten sich so daran gewöhnt, dass er ihn gar nicht mehr wahrnahm. Was er jedoch sehr wohl spürte, war die eisige, schmutzige Brühe, in der er saß.
»Das Tal wird überflutet«, erklärte der Druide. »Die Erde kann die Wassermassen nicht mehr aufnehmen, und so fließt alles am tiefsten Punkt zusammen. Wir müssen auf den Baum, wenn wir hier nicht ertrinken wollen.«
Draußen war es stockdunkel. »Jetzt? Bei Nacht?«
»Es wird uns wohl nichts anderes übrig bleiben.«
Siggi stand auf und watete durch das kniehohe Wasser zum Ausgang. Draußen gurgelte schwarz die Flut. Er konnte sehen, wie sie immer noch anstieg. Er warf einen Blick nach oben, am Stamm des Baumes hinauf. Es war so dunkel, dass man gerade mal die Hand vor Augen sehen konnte. Irgendwo in drei oder vier Meter Höhe erspähte er einen dunkleren
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