Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich
seiner Körpergröße wie ein Berg auf sie herab. Erfreut bemerkte er, wie ihre feisten Wangen erbleichten.
»Droht mir nur«, sagte er leise und scheinbar freundlich. »Es ist lange her, dass ich mein Recht ausgeübt habe, die Finanzen einzelner Personen zu überprüfen. Vielleicht sollte ich mir wieder einmal dieses Vergnügen gönnen.« Er beugte sich über sie. »Geht.«
Er schüttelte noch den Kopf, als sie schon die Treppe hinuntereilten. Zweifellos würden sie einen Brief an die Advokatin schreiben und sich über sein flegelhaftes Betragen beschweren. Etwas weiter oben erreichte er einen von einem Geländer umgebenen Absatz. An den Ecken zu den abgehenden Fluren standen Wachen mit blank polierten Rüstungen, auf denen sich das Laternenlicht spiegelte. Sie präsentierten Speere und hielten den Blick geradeaus.
»Wenigstens gibt es noch ein paar fähige Leute hier«, murmelte er vor sich hin. »Wo ist die Advokatin?«, fragte er den nächsten Wächter. Es wäre nicht nötig gewesen. Aus einer offenen Tür, ein Stück den ersten, mit Mosaiken geschmückten Flur hinunter, drangen perlendes Lachen und sanfte Musik von Saiteninstrumenten. Er erkannte Herines Stimme.
Der Wächter nickte in die betreffende Richtung. »Sie bewirtet die Gönner, mein Herr Jhered«, sagte er.
»Dann wird mein Gesicht wohl eine willkommene Ablenkung darstellen«, sagte er.
»Ich habe keinen Befehl, jemanden fernzuhalten«, stimmte der Wächter zu.
»Da hast du Glück gehabt.«
Jhered strich sich übers Haar und rieb sich das Gesicht ab, während er die kurze Strecke bis zum Empfangszimmer zurücklegte. Wächter nahmen die Haltung an und präsentierten ihre Speere. Einen Augenblick lang blieb er noch vor der Tür stehen. Herine lümmelte auf einem Haufen Kissen in der Mitte des Raumes. Mehrere Männer und Frauen, es waren acht, wie eine schnelle Zählung ergab, hatten sich um sie gruppiert. Einige standen, während andere für seinen Geschmack ihren Füßen viel zu nahe waren. Kriecher.
Einer, ein junger Mann, der noch nicht lange seiner Jugend entwachsen war, lag wie hingegossen vor ihr. Sie strich mit den Fingern über seinen muskulösen Körper und hielt mit der anderen Hand ein Glas Wein dicht vor ihren Mund. An den Wänden standen Diener bereit, um jederzeit Früchte oder Wein zu servieren. In der rechten Ecke saßen Musiker und spielten auf Kitharas und Lauten eine einschmeichelnde Musik.
Jhered schüttelte den Kopf, was er anscheinend neuerdings im Palast recht oft tun musste. Er hatte nicht übel Lust, vor seinen Füßen auszuspucken. Doch er ging nur langsam hinein und wartete, bis seine Erscheinung den Raum erfüllte und das angeregte Geplauder langsam erstarb. Ein paar Schritte vor dem Durcheinander aus Stühlen und Kissen hielt er inne. Wer in der Nähe stand, zog sich instinktiv vor ihm zurück. Er passte nicht in diese Umgebung. Seine Reisekleidung bildete einen unschönen Kontrast zu ihren feinen Sachen, der Schmutz und der Staub der realen Welt war eine Beleidigung für ihre Fantasie.
Die Advokatin drehte sich lächelnd zu ihm herum. Sie hob den Weinkelch und vergoss dabei ein paar Tropfen auf die Brust ihres Geliebten. Mit den Fingern tupfte sie den Wein ab und leckte sich nacheinander die Fingerspitzen ab.
»Mein geehrter Jhered, aus der Wildnis zurückgekehrt. Was gibt es Neues in unseren weitläufigen Gebieten?«
Sie war betrunken, und ihre Worte hätten besser in ein Heldenepos als zur Begrüßung ihres erfahrensten Soldaten gepasst. Er überging die Frage.
»Was bedeuten diese Spiele?«, sagte er. »Welcher dieser Schwachsinnigen hat dich dazu überredet? Oder war es einer dieser aufgeblasenen Affen, die mir auf der Treppe begegnet sind?«
Herine verzog in gespieltem Entsetzen das Gesicht. »Heißt das, dir gefällt die Idee nicht?«
»Ob sie mir nicht gefällt? Meine Advokatin, es ist eine Dummheit, deren Ausmaße noch den Bau der neuen Arena unter der Herrschaft deines Großvaters übertrifft, und sie dürfte noch mehr Schaden anrichten. Und wir wissen alle, welche Nachwirkungen jene Entscheidung hatte.«
Geringschätziges Getuschel erhob sich unter den Gönnern. Er schoss einen verächtlichen Blick auf sie ab. Alle waren in mittleren Jahren, alle verweichlicht und aufgeblasen aufgrund ihrer Nähe zur Advokatin. Herine erfasste ihre Stimmung und wurde sofort wieder ernst. Sie wollte etwas sagen, doch Jhered kam ihr zuvor.
»Das Fest ist vorbei«, sagte er. »Geht nach Hause und beutet die
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