Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich
euch außerdem sagen, dass am Ende des Genasab zwar der Botendienst und die Nachschubwege in Gosland und Atreska verstärkt werden sollen, die Grenzbefestigungen jedoch nicht. Die Gründe habe ich nicht erfahren, ich vermute aber, der Grund sind knappe Mittel und zu wenig verfügbare Truppen.«
Eine einzige unwillige Stimme erhob sich, und Roberto nickte.
»Ich weiß, Goran, ich weiß. Aber dies ist die Realität. Wir müssen sie als Ansporn auffassen, um schon zu Beginn des Feldzuges entscheidende Siege zu erringen, durch welche sich die Überfallkommandos in unserem Rücken gezwungen sehen, die feindlichen Heere vor uns zu verstärken.
Ich versichere euch, wir werden den Krieg in diesem Jahr gewinnen. Wir alle wollen wieder nach Hause. Achtet auf Disziplin und die Moral der Truppe. Ich werde nicht zögern, jeden seines Kommandos zu entbinden, der sich als unfähig erweist, im Feld zu bestehen. In den letzten fünf Jahren hat mich keiner von euch enttäuscht. Seht zu, dass es auch so bleibt. Wegtreten.«
Thomal Yuran, der Marschallverteidiger von Atreska, saß im Thronsaal der Hauptburg in Haroq, die seit der Eingliederung in die Estoreanische Konkordanz als Basilika bezeichnet wurde. Der frühere König von Atreska war schon lange tot. Er hatte sich lieber hinrichten lassen, als vor der Advokatin das Knie zu beugen. Yuran hielt sich für den rechtmäßigen, wenngleich glücklichen Nachfolger und hatte die Ehre, der erste Marschallverteidiger seiner Provinz zu sein, dem keinerlei Fesseln angelegt wurden. Inzwischen war er seiner Sache nicht mehr so sicher.
Der Genastro hatte wenig getan, um sein Herz und seine Knochen zu erwärmen, und seit seinem enttäuschenden Besuch in der Hauptstadt im vergangenen Dusas hatte sich ein brütender Zorn seiner Seele bemächtigt. Die Kältewelle in der ganzen Konkordanz und Tsard hatte durchaus zu seiner Stimmung gepasst, und die Warterei, bis eine Reaktion auf seine Forderungen kam und die Finanzen seiner Provinz untersucht wurden, hatte sich endlos hingezogen.
Das war inzwischen erledigt, und die Papiere lagen bereit. Er konnte sie studieren, sobald die Audienz, die er der Prätorin Gorsal aus Gullford gewährt hatte, beendet war. Sie erwartete gerade die Antwort auf eine Bitte, die sie vorgetragen hatte. Er ließ sich einen Augenblick Zeit. Der Thronsaal war inzwischen mit den estoreanischen Abzeichen geschmückt. Weiße Säulen mit den Büsten großer atreskanischer Herrscher waren aufgestellt worden. In dem von Wandteppichen geschmückten Raum mit dem Kuppeldach aus Stein wirkten sie völlig fehl am Platze.
Der ursprüngliche Thron war als Symbol der untergegangenen alten Regierung zerstört worden und einem breiten, niedrigen und unbequemen Herrschersitz gewichen. Die Uniformen der Wächter waren ebenso mit grünen Säumen besetzt wie das erhabene atreskanische Wappen, das einen von Schwertern gekreuzten Turm zeigte. Das alles hatte jetzt nicht mehr viel Bedeutung. Der Genastro war gekommen, und bald würden wieder die Überfälle einsetzen.
Er richtete den Blick auf Gorsal, der er, obwohl es gegen das Protokoll verstieß, einen Sitzplatz angeboten hatte. Sie schauderte nach der Reise, sie war krank vor Fieber und auch vor Furcht um ihre Leute, die er nicht vor den Tsardoniern hatte beschützen können.
»Ich wünschte, ich könnte mehr versprechen, als ich schon zugesagt habe. Aber ich reiße schon jetzt viel zu viele Bürger aus ihrem normalen Leben und beeinträchtige unsere Wirtschaft, um einen Krieg zu führen, den wir nicht wollen, und um Grenzen zu schützen, die wir eigentlich nicht schützen müssten. Wenn die Einnehmer, die vor meiner Tür stehen, nicht gerade eine sehr angenehme Überraschung mitbringen, kann ich keine Sicherheit anbieten außer jener, die in den Mauern meiner Stadt zu finden ist.«
»Wir werden Gullford nicht verlassen«, keuchte Gorsal. Sie hustete schwer und krümmte sich vor Schmerzen. »Also werden wir verbrennen, wenn sie zurückkehren, und die Schuld für unseren Tod wird auf deinen Schultern lasten. Die Zyklen vieler Menschen werden damit beendet sein. Kannst du damit leben?«
Yuran verkniff sich eine scharfe Antwort. Er hielt nichts von der Religion der Konkordanz und hatte erst eingewilligt, sein Amt als Marschallverteidiger zu übernehmen, nachdem man ihm versichert hatte, dass der atreskanische Glaube, der eher mit der tsardonischen als der estoreanischen Religion Gemeinsamkeiten aufwies, ungehindert weiterexistieren
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