Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich
durfte. Der Bürgerkrieg, der in seinem Land auszubrechen drohte, warf die Frage auf, ob nicht auch das ein Fehler gewesen war. Kein Wunder, dass er jeden Abend vor seinem Schrein um Anleitung durch die Herren von Himmel und Sternen betete.
»Was soll ich denn nun tun? Es gibt fünfzig Orte, die in der gleichen Lage sind wie deines. Ich kann sie nicht alle verteidigen und darf keinem den Vorzug vor den anderen geben. Wir können nur hoffen, dass der Feldzug in Tsard bald beendet ist. Betet darum in eurem Haus der Masken.«
Yuran verfluchte sich selbst für den verächtlichen Ausdruck, der durch Gorsals krankes, bleiches Gesicht zuckte.
»Ich habe Hoffnung«, sagte er. »Ich habe wirklich Hoffnung. Auch wenn ich dir nicht mehr geben kann, so glaube ich doch, dass die Advokatin einwilligen wird, die Grenzbefestigungen mit Legionen der Konkordanz zu bemannen.«
»Wieder ein leeres Versprechen des in Völlerei und Dekadenz lebenden Estorr«, schniefte Gorsal. »So leer wie Jhereds Versprechungen.«
»Dann kommt hierher nach Haroq, bis die Schwierigkeiten beigelegt sind. Baut euer Dorf wieder auf, wenn die Soldaten zu euch zurückkehren«, sagte er.
Er fühlte sich hoffnungslos zerrissen. Immer noch empfand er Achtung für Estorea, auch wenn sie jeden Tag ein wenig mehr sank. Die Beamten und Offiziere des Reichs trieben sich auf seinen Fluren herum. Was blieb ihm übrig, als im Gleichschritt zu marschieren? Zugleich aber spürte er, wie inhaltsleer die Worte waren, die er sagte. Gemeinplätze, weiter nichts.
Gorsal schüttelte den Kopf. »Wir im Grenzland sind stark«, sagte sie. »Wir sind stolz auf unsere Lebensart. Wir bitten nur darum, dass uns die Konkordanz die gleiche Loyalität erweist, die wir auch ihr zeigen. Verteidigt uns. Verteidigt unser Volk. Denn sonst werden wir eines Tages auf die Rebellen hören, und dann sind wir für die Konkordanz verloren.« Sie stand auf. »Dabei werden wir nicht allein sein. Gib uns Hoffnung, Marschall. Mehr verlangen wir nicht.«
Yuran sah ihr seufzend nach. Er klatschte die Handfläche auf die Armlehne des Throns und fuhr sich mit der brennenden Hand über die Stirn. Seine Ratgeber, die ihn umringten, schwiegen. Wahrscheinlich waren sie allesamt estoreanische Spione. Schließlich hatte er keinen einzigen selbst ausgewählt. Aber immerhin würden sie berichten, dass seine Loyalität ungebrochen war.
Schritte hallten durch den Thronsaal. Drei Besucher kamen, zwei Männer und in der Mitte eine Frau. Einnehmer. Er winkte sie zu sich und betrachtete forschend ihre Mienen. Ihnen war nicht anzumerken, was sie dachten.
»Nun«, sagte er, »was ist mit meinen Büchern? Und wie lautet die Entscheidung über meine Bitte, die ich der Advokatin vorgetragen habe?«
Die Frau im Rang eines Appros’, eine erfahrene Buchprüferin und Soldatin, reichte ihm ein einziges Blatt Pergament, das mit dem Wappen der Del Aglios versiegelt war.
»Dies ist die Botschaft der Advokatin«, erklärte sie. »Inzwischen wird unser Bericht über Eure Bücher von Euren eigenen Schatzmeistern überprüft. Es zeigte sich, dass es kaum Nachlässigkeiten gab.«
Er spreizte die Finger, bevor er das Pergament annahm. »Ich sagte Euch doch, dass Ihr Eure Zeit verschwendest, Appros Menas. Ich gebe, was ich kann. Ich nehme an, dass ich vor diesem Hintergrund nicht gebeten werde, noch mehr Soldaten auszuheben oder höhere Steuern zu entrichten.«
»So ist es«, stimmte Menas zu. Ihre Stimme klang unverbindlich, und ihr Gesicht, das seit einem Gefecht vor mehreren Jahren durch Narben entstellt war, blieb ernst. »Allerdings dürfte es Euch auch nicht überraschen, dass ein Land, das nicht viel Steuern entrichtet, auch nicht auf eine Verteidigung rechnen kann, die durch die Steuern anderer Länder beglichen wird, zumal der tsardonische Feldzug den Staatshaushalt so sehr belastet.«
Yuran sackte in sich zusammen. »Die Konkordanz sollte sich an ihre eigenen Prinzipien halten. Zentrale Besteuerung zum Wohle aller. Neratharn wird nicht angegriffen. Seine Truppen könnten mein Land verteidigen, wenn wir in Not sind. Sind wir denn nicht eine große Familie?«
»Ja, Marschall Yuran, das sind wir. Aber die Advokatur hat entschieden, das Militärbudget zu verwenden, um weitere Legionen auszuheben und endlich in Tsard den Sieg zu erringen. Unter anderem dorthin werden die Neratharner gehen.«
»Dann bin ich wieder genau da, wo ich begonnen habe«, sagte er. »Mein Volk wird sterben, es ist den Launen der tsardonischen
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