Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich
Schließlich öffnete sie die Augen wieder und hob die Hände. Das Publikum beruhigte sich, und sie hielt mit lauter Stimme ihre Ansprache. Mühelos erfüllte ihre Stimme dank der präzisen Architektur das ganze Oval.
»Bürger der Konkordanz von Estorea, willkommen in eurer ruhmreichen Welt. Den Ruhm unserer Welt werden wir mit den größten Spielen feiern, die es je gegeben hat!«
Jubelrufe ertönten ringsum in der Arena. Es war ein erstaunlicher, wundervoller Lärm.
»Alles, was wir gebaut haben, verdanken wir der Arbeit unserer eigenen Hände sowie dem Blut und den Mühen unserer Legionen, die jetzt im Augenblick danach streben, unsere Konkordanz sogar noch zu vergrößern. In den nächsten zehn Tagen werdet ihr Wunder aus einem Dutzend Länder sehen. Ihr könnt den besten Athleten, Reitern und Kriegern applaudieren, die um das begehrte Goldene Laub der Konkordanz wetteifern. Ihr werdet die stärksten Mannschaften sehen, die sich je versammelt haben, wie sie um die Siegestrophäe kämpfen, die Goldenen Lanzen von Ocetarus. Und ihr werdet Nachbildungen der größten Siege sehen, die die Konkordanz je errungen hat.
Seht zu, meine Bürger, und seid versichert, dass eure Arbeit, euer Opfer und euer Wille das sind, was der Konkordanz ihre Größe verleiht. Durch euch werden wir größer und größer. Lasst die Spiele beginnen!«
Fanfarenklänge ertönten, gingen aber im erneuten Jubeln und Singen beinahe unter. Herine kehrte zu ihrem Stuhl zurück, winkte in alle Richtungen und setzte sich. Der Lärm hallte in der Arena wider und stachelte die Menschen immer weiter auf. Als die ersten Sportler das Oval betraten, ließ der Tumult etwas nach. Jemand berührte sie am Arm. Sie drehte sich nach links und lächelte Kanzlerin Koroyan an.
»Eine mitreißende Rede, Herine«, sagte sie. »Das Volk hat sich nach etwas Unterhaltung gesehnt. Die Mühsal des Krieges hat den Bürgern die Willenskraft genommen, und nicht einmal der Orden könnte ihnen besser Mut machen. Diese Spiele sind ein meisterhafter Schachzug, und wir werden um die Gunst des Allwissenden beten, dass er das Volk mit neuer Kraft beflügeln möge. Ich danke Euch im Namen von uns allen.«
Herine erschrak über dieses Eingeständnis ebenso wie über die ungewöhnliche Begeisterung der Ordenskanzlerin. Das passte ganz und gar nicht zu ihr. Wahrscheinlich führte sie irgendetwas im Schilde.
»Ja, vielen Dank, Felice«, erwiderte Herine. »Ich freue mich über Euren Zuspruch.«
»Was sonst sollte ich dazu sagen? Es kommt mir jetzt schon so vor, als hätten die Menschen frischen Mut geschöpft. Und der Ruhm der Konkordanz ist der Ruhm Gottes.«
»Wollen wir hoffen, dass die Spiele auch den Hoffnungen gerecht werden.«
»Umso überraschender ist freilich, dass Schatzkanzler Jhered nicht an Eurer Seite sitzt und Euch ebenso unterstützt wie ich.«
Herine ließ sich nichts anmerken.
»Die Einnehmer müssen auch während solcher Spiele ihren Aufgaben nachgehen. Zwar feiern wir mit den Spielen unseren Ruhm, aber wir befinden uns immer noch im Krieg, und sie müssen die Steuern einziehen.«
»Auch das Wort Gottes muss unbedingt und dringend in der Konkordanz und den neuen Gebieten gepredigt werden. Dennoch haben wir uns bemüht, eine ansehnliche Delegation zu den Spielen zu entsenden. Die Bürger wollen uns sehen. Sie sollten auch die Einnehmer sehen.«
»Seid Ihr sicher?«, fragte Herine etwas verstimmt. »Den meisten Menschen ist es lieber, wenn die Einnehmer weit weg sind. Sie stoßen in der Konkordanz nicht gerade auf viel Sympathie.«
»Auch der Orden hat seine Gegner …«
»… die täglich dezimiert werden …«
»… aber wenn wir als Kraft des Guten akzeptiert werden wollen, was wir ja zweifellos auch sind, dann müssen wir den Menschen vor Augen führen, dass wir gute Werke tun und fähig sind, auch die Freuden gewöhnlicher Bürger zu verstehen. Schließlich können wir das Volk ja nur führen, wenn wir wissen, was es bewegt.«
»Die Einnehmer treten nicht als geistliche Anführer auf«, erwiderte Herine knapp. »Vielleicht sollten wir uns einfach darüber freuen, dass wir hier sein dürfen, während andere ihren Pflichten nachkommen müssen.«
Koroyan lächelte nachsichtig. Sie trug ihre Staatsrobe, eine dunkle ockerfarbene Toga mit einer golden abgesetzten Schärpe im Grün der Konkordanz. Ins Haar hatte sie sich einen goldenen Reif geflochten, der wie einander umrankende Wurzeln geformt war und auf der Stirn in einem Zweig mit Blättern
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