Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich
Sie haben vor allem Bogenschützen und leichte Infanterie. Sie sind nicht schwer genug gerüstet, um gegen die Principes mit ihren Schwertern zu bestehen. Die Steppenkavallerie kann es sich nicht erlauben, an der linken Flanke einzugreifen, weil wir sie sonst von rechts attackieren können.«
Gesteris überblickte prüfend das Schlachtfeld, während sie frustriert alle Muskeln im Körper anspannte. Er richtete sich in den Steigbügeln auf und überblickte auch die Furten, wo die Kämpfe, dem stark verminderten Lärm nach zu urteilen, vorübergehend beinahe zum Erliegen gekommen waren.
»Nunan, was sagt Ihr dazu?«
»Sie kommen mit unseren eng gestaffelten Linien und unseren erfahrenen Soldaten nicht gut zurecht«, antwortete Nunan. »Ich stimme Rittmeisterin Kell zu. Wir können sie gleich an Ort und Stelle besiegen.«
»Und wenn sie hinter der Flussbiegung und jenseits der Anhöhe da vom Reserveeinheiten liegen haben, die wir nicht sehen können?«
»Dann sind wir trotzdem in der richtigen Schlachtordnung, um ihnen zu begegnen«, erwiderte Kell. Sie blies die Wangen auf. »General, wir müssen es gleich tun, sonst ist der Augenblick vorbei. Der Tag war anstrengend genug, und wenn wir nichts unternehmen, laufen wir Gefahr, den Durchbruch nicht zu erzielen. Dann müssen wir morgen erneut kämpfen, ohne zu wissen, ob wir noch einmal so einen Vorteil erlangen.«
Gesteris fasste sie genau ins Auge, dachte sorgfältig nach und zog die grauen Augenbrauen zusammen.
»Ich werde das Heer nicht in Gefahr bringen«, drängte Kell ihn.
»Nein, das werdet Ihr nicht«, erwiderte Gesteris.
Dann schwieg er. Kell starrte ihn an, während der Schlachtlärm über sie hereinbrach. Pfeilsalven pfiffen durch die Luft. Zenturionen brüllten Befehle. Soldaten reagierten, machten kehrt, gruppierten sich neu und griffen abermals an. Sie konnte die Vorsicht ihres Befehlshabers nicht verstehen. Die Schlacht wendete sich zu ihren Gunsten. Nur noch ein kleiner Stoß …
Doch wenn Gesteris eines war, dann gewissenhaft. Kein Leben durfte je verschwendet werden. Nicht eines unter achtzigtausend. Seine Bürger, Wehrpflichtigen und die verbündeten Legionen liebten ihn dafür, seine kommandierenden Offiziere weniger.
»Sie verstärken bereits die linke Flanke«, sagte er schließlich. »Und Ihr habt sie verunsichert. Ein Vorstoß an der geschwächten rechten Seite würde zu besseren Ergebnissen führen.«
»Dort haben sie die besseren Kämpfer«, widersprach Kell. »Sie haben sich auf den Rhythmus des Kampfes eingestellt. Ich brauche nur eine weitere Abteilung Kataphrakten, zwei Einheiten berittene Schwertkämpfer und eine Abteilung Bogenschützen. Vertraut mir.«
Gesteris’ Augenbrauen verschwanden unter der Kante seines Helms. »Euch vertrauen? Aber natürlich vertraue ich Euch, Rittmeisterin Kell. Das steht überhaupt nicht zur Debatte.« Wieder schwieg er, als sei ihm etwas eingefallen. Ein Manipel Hastati marschierte vorbei, nachdem es zurückgezogen worden war, um sich zu erholen und die Verletzungen zu versorgen. »Haltet den Druck aufrecht. Vielleicht müssen wir unsere Linien hier gar nicht umstellen. An der vorderen Furt gibt es Leerlauf, dort stehen viele Berittene untätig herum. Wir versuchen es mit Eurem Vorschlag. Erwartet die Reserve und greift nach eigenem Ermessen an.«
Kell lächelte und nickte, aber ihre Antwort verlor sich in den erschrockenen Rufen, die durch die Reihen der Konkordanz liefen. Sie riss den Kopf herum. Ein Heulen und Pfeifen erfüllte die Luft.
»Was, zum …«
Der Himmel war voller Steine.
In ungläubigem Entsetzen beobachtete Kell die Geschosse, die inmitten der konkordantischen Legionen einschlugen. Die schweren Brocken krachten in die hinteren Reihen der Hastati. Jeweils dreißig oder vierzig von ihnen kam als Schwarm geflogen, zusammen gut drei Talente schwer, und deckten die Soldaten ein. Große Schlammfontänen spritzten hoch, und die Bürger stoben in alle Richtungen davon. Wie Wellen gingen die Bewegungen durch die dicht stehenden Manipel, und auf einmal klangen die Stimmen ringsum sehr unsicher.
Sie konnte es ihnen nachempfinden. Diese Steine waren eigentlich zu groß, um von einem Katapult abgeschossen zu werden. Maschinen dieser Größe konnte man nicht über den nassen Grund schleppen. Genau aus diesem Grund wurden die schweren Onager der Konkordanz zur Verteidigung des Lagers eingesetzt. Ihre Wagen wären hier im Morast versunken. Irgendwie hatten die Tsardonier dieses Problem
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