Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich
aufzuheben, kaum eine Handbreit von den Hufen entfernt.
Die Ansager waren schon vor langer Zeit von der jubelnden Menge übertönt worden, und nun endlich nahm die Legion vor ihr Aufstellung. Der Staub legte sich wieder im Stadion, und die Soldaten präsentierten die Standarte mit dem hochsteigenden weißen Pferd und den überkreuzten Speeren, dem Wappen der Familie Del Aglios. Sie neigte vor dem General der Legion höflich den Kopf, und unter erneutem Gebrüll der Menge verließen die Legenden die Arena. Herine wandte sich an die Kanzlerin.
»Können wir jemals an der Überlegenheit unserer Heere zweifeln?«, sagte sie. »Kein Land kann sich dieser Macht widersetzen.«
»Es wäre schön, wenn jeder Soldat und Reiter so gut ausgebildet wäre«, antwortete Koroyan.
Herine wedelte verächtlich mit einer Hand. »Ein mehrjähriger Feldzug unter meinen Generälen und Zenturionen ist Ausbildung genug. Ich frage mich, was die nächste Augenweide sein wird?«
»Das Finale der Jagdbogenschützen«, erklärte Adranis, der in das Tagesprogramm gesehen hatte.
Sein Gesicht war vor Erregung gerötet, er war angespannt vor Neugierde und beugte sich über den Rand des Balkons, als wollte er gleich hinabspringen und mitmachen.
»Oh, wundervoll.« Tuline verdrehte die Augen. Sie lümmelte gelangweilt auf ihrem Stuhl, die Beine über eine Armlehne gehängt. »Erwachsene Männer kriechen durch den Sand und schießen auf ausgestopfte Tiere.«
Herine lächelte ihre Kinder an. »Danke, dass ihr bei mir seid«, sagte sie. »Roberto wäre auf euch beide stolz.«
»Roberto hat sicher mehr Spaß als wir«, sagte Tuline. »Jedenfalls ist das, was er sieht, ein echter Kampf.«
»Du lässt mich doch zur Kavallerie gehen, Mutter?«, fragte Adranis.
Herine kicherte. »Natürlich. Einen guten jungen Reiter wie dich nehmen sie gern. Wahrscheinlich vertraue ich dich Rittmeisterin Kell an. Sie macht einen großen Kämpfer aus dir.«
Adranis strahlte.
Gesteris’ Worte hallten laut in Keils Kopf. Die Steppenkavallerie erwies sich als zäher Gegner. Es waren ausgezeichnete Reiter, die blitzschnell ihre Tiere wenden und aus dem Sattel zielsicher mit Speer und Pfeil kämpfen konnten. Wenn sie überhaupt zu bezwingen waren, dann vor allem durch Schwerter, aber zuerst einmal musste man ihnen nahe genug kommen, um die Klinge gegen sie erheben zu können.
Keils Einheiten hatten die regulären tsardonischen Reiter ziemlich schnell erledigt, und sie hatte schon gehofft, der Durchbruch sei erreicht. Dann aber war die Reserve, die Gesteris ihr geschickt hatte, auf eine große Abteilung der Steppenkavallerie getroffen, schätzungsweise dreihundert Reiter. Die ganze Zeit über waren weiter Steine, so schwer wie ausgewachsene Männer, auf sie herabgeprasselt. Die Onager waren bisher kein einziges Mal in Gefahr gekommen, und Kell wusste genau, wie sehr Gesteris sich ärgerte, weil seine Infanterie starb, ohne auch nur ein Schwert gegen den Feind erhoben zu haben.
Sie trabte zu den gegnerischen Reihen hinüber und schätzte mit raschen Blicken nach links und rechts ein, wie breit die feindliche Linie war. Aus ihren drei Kataphrakt-Einheiten hatte sie eine einzige gemacht, die ihr ganzes Gesichtsfeld ausfüllte. Drei Reiter tiefgestaffelt, würden sie die Steppenkavallerie angehen. Hinter ihnen würden die Schwertkämpfer folgen, und über ihre Köpfe hinweg sollten die Pfeile fliegen. Doch dies war eine Aufstellung, die der Feind ihr aufgezwungen hatte.
Vor ihr hatten sich die Steppenkrieger in Einheiten von jeweils etwa zwanzig Reitern aufgeteilt, die wie spielerisch umhertänzelten. Ihre Pferde waren mit rot abgesetztem gelbem Tuch bedeckt, unter dem eine leichte Rüstung befestigt war. Die Reiter trugen sandfarbenes Leder. An den Speeren flatterten gelbe Banner, an den Schwertgriffen und den Spitzen der Bogen waren kleine gelbe Tuchstreifen befestigt. All das war dazu geeignet, das Auge des Feindes abzulenken. Aber das war noch nicht alles. Kell spürte es ringsherum. Die Furcht, die der Ruhm mit sich brachte. Doch die Steppenkavalleristen waren nicht die einzigen gefürchteten Reiter auf diesem Schlachtfeld.
»Kataphrakten, vergesst nicht, wer ihr seid!«, rief sie, als sie direkt hinter ihnen ihre Position eingenommen hatte. »Wir sind die Konkordanz. Wir sind Estorea. Wir sind die Krallen, der Donner und die Drachen. Wir werden nie besiegt.«
Die Kavallerie ritt im leichten Galopp los und näherte sich den Feinden bis auf zweihundert
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