Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich
ist noch viel mehr passiert.« Kessians ernste Antwort trieb ihr das Lachen sofort wieder aus. »Du hast am dritten Tag das Bewusstsein verloren, heute ist der zwanzigste.«
Sie riss den Mund weit auf und stammelte nach einigen Augenblicken: »Siebzehn Tage?« Kessian nickte.
Mirron blickte wieder zu den anderen Aufgestiegenen und schüttelte den Kopf. »Ich habe nur gelernt, wie ich es unterdrücken kann. Nein, so meine ich das nicht. Es hört ja niemals auf, aber ich lerne, wie ich es unter meine Kontrolle bringen kann, wie das Feuer und den Regen, bei denen ich es schon weiß. Allerdings kommt es mir vor, als wäre die Spanne viel kürzer gewesen. Waren es wirklich siebzehn Tage? Und was ist mit meinen Augen?«
»Wir zeigen es dir gleich in einem Spiegel«, versprach Kessian. »Nun sage mir, wie du dich jetzt fühlst.«
Mirron hielt inne und dachte nach. Ein warmes Gelb lief über ihre Iris, bevor die Augen sich beruhigten und ein sanftes, pulsierendes Blau zeigten. »Ich kann alles spüren, es ist ganz warm hier.« Sie legte die Hand auf den Bauch. »Und hier.« Sie berührte ihren Kopf. Dann entzog sie Kovan ihre Hand, hob beide Hände und wackelte mit den Fingern. Schließlich sah sie Kessian offen an. »Ich kann alles hier halten. Alles.«
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848. Zyklus Gottes, 20. Tag des Solasauf
15. Jahr des wahren Aufstiegs
D ie erste Abteilung von Yurans hastig zusammengestellter Bürgermiliz hatte Haroq bereits mit dem Auftrag verlassen, das eigene Land zu verteidigen. Rüstungen und Waffen hatte ihnen die Rüstkammer von Haroq zur Verfügung gestellt, und die Münzen in ihren Börsen stammten aus den Kisten mit den Steuergeldern. Der Marschall war froh über die unmittelbaren Ergebnisse dieser Maßnahme. Ihm war klar, dass er damit ein Risiko einging, aber allein schon die Minderung der Spannung in der Stadt war Grund genug gewesen.
Er hatte die Verteidigung des Landes wieder in die Hände seines Volks gelegt, obwohl in Tsard so viele unter dem Banner der Konkordanz marschierten. Zwar besaß seine Miliz weder die neuesten Rüstungen noch die schärfsten Klingen, aber dafür waren sie von einem erneuerten Glauben an ihren Marschall beseelt. Da Yuran jeder Einheit gut ausgebildete Soldaten mitgegeben hatte, glaubten sie wirklich, etwas ausrichten zu können.
Die Aufstände und Demonstrationen hatten jedenfalls rasch nachgelassen, und in Haroq war es wieder ruhig geworden. Jetzt mussten sich seine Maßnahmen bewähren. Er wartete auf die Berichte der Milizen, wie tief und in welcher Zahl die Angreifer aus Tsard eingedrungen waren. Es war nötig, die Menschen daheim aufzumuntern, damit sie die Ernte einbrachten, bevor Dusas den Boden wieder gefrieren ließ. Er musste die Leute auf seiner Seite wissen, damit der zivile Ungehorsam aufhörte.
Yuran genoss zusammen mit Megan ein spätes Abendessen. Er hatte das Siegel einiger guter Weinflaschen geöffnet und seinen Köchen befohlen, klassische Gerichte aus Atreska und Tsard zuzubereiten. Die Fenster im großen Speisesaal mit der gewölbten Decke standen offen, damit die Nachtluft hereinkam, und Yuran freute sich darüber, dass der leichte Wind keinen Lärm hereintrug, der von Zwietracht und Gewalt kündete.
So sehr er sich auch bemühte, wenn die Estoreaner zu Besuch kamen – er konnte sich nicht damit anfreunden, im Liegen zu speisen, und so saß er mit Megan an einem richtigen Tisch mit richtigen Stühlen, die gerade Lehnen hatten. Kerzenleuchter vertrieben die Dunkelheit, an den mit Gobelins geschmückten Wänden standen Diener bereit und warteten auf sein Zeichen. So hielt man es in Atreska. Im Grunde hielt man es überall so, abgesehen von Estorea und den Caradukiern, die ihnen aus der Hand fraßen.
»Marschall?«
»Entschuldige, Megan. Ich war meilenweit entfernt.«
»Ihr habt den Kopf geschüttelt. Stimmt etwas nicht?«
»Doch, doch. Es ist alles in Ordnung«, erwiderte Yuran. »Wie sollte es auch anders sein?«
Megan war nicht nur klug, einfallsreich und intelligent. Sie hatte nicht nur seine Stadt und vielleicht sein ganzes Land vor dem Bürgerkrieg gerettet. Sie war außerdem auch sehr, sehr hübsch. Vielleicht trübte der Wein seine Sehkraft, aber seine Ratgeberin schien sich in seiner Gegenwart ausgesprochen wohlzufühlen. Nie war sie nervös oder verging vor Ehrfrucht. Auch hatte sie nicht ängstlich reagiert, als er sie darum gebeten hatte, ihm Gesellschaft zu leisten. Vielleicht hatte sie es sogar schon erwartet und sich darauf
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