Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich
Befehle?«
»Befehle …?«
Yuran spürte ein erdrückendes Gewicht auf der Brust. Er konnte kaum noch klar denken und schwitzte am ganzen Körper. Seine Gedanken rasten und kamen zu keinem Ergebnis, denn was er sah, war der Untergang. Sein Kopf fühlte sich an, als wäre darin ein Schmelzofen entfacht worden.
»Marschall?«
Yuran schüttelte heftig den Kopf, um wieder zu sich zu kommen, und hob eine Hand. Sie zitterte, aber das war ihm egal. Dann wandte er sich an Megan.
»Es ist mir wohl nicht bestimmt, ein friedliches Leben zu führen, was?«, sagte er.
»Wir werden dir folgen, was immer geschieht«, sagte Megan. »Sage uns nur, was wir tun sollen.«
Ihre Miene, voller Liebe und Vertrauen, gab ihm die Tatkraft zurück. Yuran richtete sich auf.
»Ruft meine Kommandanten zusammen. Ich will wissen, welche Kräfte ich noch zu unserer Verteidigung einsetzen kann. Vielleicht können wir sie nahe der Grenze aufhalten. Ich werde eine Proklamation verfassen, die in der ganzen Stadt verbreitet werden soll, um den Einwohnern mitzuteilen, was uns bevorsteht. Zündet die Signalfeuer an. Atreska ist wieder im Krieg, und wir müssen so viele Menschen wie möglich innerhalb der Mauern unserer Städte schützen.« Dann drehte er sich wieder zu seinem Adjutanten um. Die anfängliche Verzweiflung war einer unbändigen Wut gewichen. »Außerdem will ich sofort den estoreanischen Konsul sehen. Geh jetzt.«
Der Adjutant verließ das Zimmer. Yuran lauschte seinen Schritten, die draußen auf dem Flur verhallten. Durch die Fenster drangen die Geräusche der Stadt herein, die ängstlich erwachte. Sobald die Signalfeuer entfacht waren, würde die Furcht auf ganz Atreska übergreifen. Die Familien der Soldaten, die am Feldzug in Tsard teilgenommen hatten, würden jeden Überlebenden, der durch ihre Tore kam, mit Fragen bestürmen und Informationen über die Vermissten verlangen. Sie würden nach jedem Strohhalm greifen, um die Hoffnung zu nähren, dass ihre Liebsten der Katastrophe entkommen waren. Die Geschichten würden, angefacht von der Invasion, wie ein Lauffeuer durch das Land rasen.
Megan stand auf und kam um den Tisch herum zu ihm. Sie umarmten sich innig und schmiegten die Gesichter an die Schulter des anderen. Schließlich zog Yuran sich wieder zurück.
»Es ist traurig, dass unsere erste Umarmung zugleich ein Abschied ist«, sagte er.
»Mein Herr?« Megan runzelte die Stirn.
»Für den Augenblick wirst wenigstens du in Sicherheit sein. Du bist bereit, höhere Ämter zu übernehmen, und du wirst nach Estorr reisen, um meine Botschaften zu überbringen und Verstärkung zu verlangen. Wir werden unser Land nicht kampflos aufgeben. Jetzt ist es an der Zeit, dass die Konkordanz zu ihren Völkern steht.«
Er fuhr mit einem Finger über Megans Wange. Sie nahm seine Hand und drückte sie fest.
»Du kannst im Morgengrauen mit einem Boot auf dem Teel bis Byscar fahren. Wenn das Wetter gut ist, müsstest du in dreizehn Tagen in Estorr eintreffen. Ich gebe dir einen Befehl und mein Siegel mit, damit du ein Schiff und die Mannschaft in Dienst nehmen kannst.«
»Ich sollte an deiner Seite stehen, Marschall«, wandte Megan ein.
»Du wirst mir und Atreska in Estorr besser dienen, Megan.« Er beugte sich vor und küsste sie auf die Lippen. »Die beste Möglichkeit, wieder zusammen zu sein, besteht jetzt darin, getrennt zu arbeiten.«
Megan nickte. »Ich werde mein Bestes tun.«
»Ich weiß, dass du nichts anderes tust.«
Sie umarmten sich noch einmal, und dann sah Yuran ihr hinterher und konnte das Gefühl nicht loswerden, dass die Konkordanz ihm schon wieder etwas geraubt hatte, das er liebte.
Dieses Mal kam Sentor Rensaark mit einem Heer, das ihm und seiner Reitertruppe in einigem Abstand folgte, über die tsardonische Grenze nach Atreska herein. Seine jahrelange Vorarbeit war nicht vergebens gewesen. In der frühen Morgendämmerung beobachtete er, wie Korls Auge über den Bergen aufstieg, und wusste, dass der Sieg für seinen König zum Greifen nahe war. Er ritt an der Spitze von fünfhundert Steppenkavalleristen, von denen mehr als die Hälfte nach dem ruhmreichen Sieg in Scintarit zu ihm gestoßen waren. Unterhalb der Anhöhe, auf der er angehalten hatte, lag eine der zweihundert Grenzfestungen, mit denen die gesamte atreskanische Grenze gesichert war. Die Flagge der Konkordanz flatterte träge im Wind.
Er hob den Speer quer über den Kopf, und die Kavallerie trabte die letzte Meile bis zur Festung. Das dumpfe
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