Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich
nicht schuldig«, sagte der Hauptmann, der offenbar Mühe hatte zu glauben, was sich vor seinen Augen abspielte. »Wir bewachen wie befohlen die Straße. In Westfallen hat es einen Ausbruch von Rinderseuche gegeben, und die Stadt steht unter Quarantäne. Bei allem Respekt, meine Kanzlerin, muss ich Euch bitten umzukehren.«
Felice war nicht anzusehen, was in ihr vorging. »Das Gleiche haben uns auch schon die beiden ersten Posten gesagt, auf die wir gestoßen sind. Weißt du, warum wir dennoch hier sind? Wir sind hier, weil Gottes Werk sich nicht durch Lügen behindern lässt. Rinderseuche …« Sie schüttelte den Kopf. »Komme ich dir vor, als wäre ich schwachsinnig?«
»Nein, meine Kanzlerin.«
»Nein«, bestätigte Felice. »Warum tischst du mir dann diese Unwahrheit auf? Dieser Ausbruch von Rinderseuche, der angeblich die unglücklichen Einwohner von Westfallen getroffen hat, hält schon viel länger an, als es der Wissenschaft und dem Verstand nach möglich ist. Inzwischen müsste jedes Tier in der Stadt verendet oder die Krankheit geheilt sein. Wenn dir keine bessere Antwort einfällt, dann kann ich nur folgern, dass du schuldig bist.«
»Bitte, meine Kanzlerin, wir sind gewöhnliche Soldaten und Bürger. Wir befolgen Befehle und legen die Treue an den Tag, die unser Marschallverteidiger von uns erwartet.«
»Selbst wenn das bedeutet, Gott den Rücken zu kehren?« Felice fuhr endgültig aus der Haut. »Selbst wenn das bedeutet, dass vor euren Augen das Böse geboren wird und blüht? Verlangt und verdient nicht euer Gott ebenso wie ich eure Achtung?«
»Selbstverständlich, meine Kanzlerin.«
»Dann erweise mir diesen Respekt«, fauchte sie. »Sag mir die Wahrheit.«
»Ich stelle nicht die Befehle meines Marschalls infrage. Bitte, Kanzlerin, wir sind unschuldig.«
»Lügner«, schaltete sich Vennegoor daraufhin ein. »Wir kennen die Fragen, die ihr denen stellt, die nach Westfallen reisen. Wir wissen auch, was ihr diejenigen fragt, die den Ort wieder verlassen. Es ist eine Quarantäne, die das Böse schützt. Ihr seid der Ketzerei so schuldig wie euer Marschall und eure Aufgestiegenen.«
Der Hauptmann reagierte und senkte ein wenig den Kopf.
»Schuldig«, sagte sie.
Hinter ihr wurden hundert Bogen gespannt. Die Wächter gerieten in Panik. Sie flehten um Gnade und Milde und suchten ihren Glauben zu beweisen. Felice schüttelte den Kopf.
»Euer Gott bittet euch nur, seinen Geboten zu folgen und die Erde von denen freizuhalten, die den Glauben unterhöhlen. Das habt ihr nicht getan. Ihr habt keine glaubwürdige Verteidigung, ihr seid euch der Gegenwart des Bösen bewusst, und deshalb befinde ich euch im Sinne der Vorwürfe für schuldig. Ihr werdet zum Tode verurteilt und dürft niemals die Umarmung Gottes spüren.«
»Ihr habt nicht die Autorität, ein solches Urteil zu vollstrecken.« Der Hauptmann der Wache hatte endlich seinen Mut wieder gefunden.
»Du wirst feststellen, dass du dich in diesem Punkt ebenso irrst wie in vielen anderen«, erwiderte Vennegoor.
Einer der Wächter verlor die Nerven und rannte weg. Vennegoor hob den Arm und ließ ihn wieder sinken. An den Flanken der im Halbkreis aufgestellten Reiter summten die Bogensehnen. Pfeile verdunkelten einen Augenblick lang den Himmel und trafen die Wächter. Eine Vielzahl von Schäften durchbohrte jeden Körper, sie waren sofort tot. Felice schüttelte den Kopf.
»Verbrennt sie. Die Teufel sollen sie bekommen. Das Urteil ist vollstreckt.« Sie ließ sich auf ein Knie nieder. »Wir wollen beten.«
Arducius lief durch Westfallen zum Meer. Seine Freunde waren bei ihm. Ossacer hatte ihm eine Hand auf den rechten Arm gelegt, obwohl er eigentlich keine Hilfe mehr brauchte. Inzwischen konnte er viel besser mithilfe der Energiebahnen sehen, auch wenn es immer noch anstrengend war. Mirron ging ein Stückchen vor ihnen und plauderte mit Kovan, der stolz einherschritt, eine Hand lässig auf den Schwertknauf gelegt. Gorian schlenderte links neben ihm, wie es seine Art war. Er kaute an einem Grashalm, und jedes Mal, wenn er Mirron und Kovan betrachtete, lächelte er leicht.
Es war der Nachmittag eines von Gott gesegneten Tages, und das Leben der Erde brandete mächtig durch die Aufgestiegenen. Arducius spürte es wie ein Grollen, das seinen ganzen Körper erbeben ließ. Er konnte sich noch gut erinnern, wie schmerzhaft es gewesen war, sich mit allem verbunden zu fühlen, und an die Erleichterung in den Mienen der Autorität, als er wieder zu
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