Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich
sich gekommen war. Zu glauben, das bisherige Herumspielen mit den Elementen sei schon das Erwachen gewesen … Es war nur das Vorspiel gewesen. Alles, was sie gelernt hatten, waren nur Schritte auf dem Weg gewesen, bis sie die wahre Energie aufnehmen konnten, die wahren Lebenslinien.
Was sie jetzt empfanden, war eine ganz andere Größenordnung als das Vorherige. Kein Wunder, dass ihre Körper und Geister sich zuerst gesträubt hatten. Sie hatten es nicht akzeptieren und kontrollieren können. Sie vermochten immer noch nicht richtig zu steuern, was sie empfanden, und mussten ihre Arbeiten sehr sorgfältig vorbereiten. Auch jetzt konnten sie noch nicht wagen, ihre Möglichkeiten ganz auszuschöpfen. Es machte ihnen Angst, und Vater Kessian hatte sie gewarnt, es vorsichtig anzugehen. Sie hielten sich an den Rat.
An diesem Tag hatten sie frei, sie mussten nicht lernen, und wollten schwimmen und segeln gehen. Kovan sollte bei einigen Wettkämpfen über Wasser als Schiedsrichter fungieren und mit einem Stundenglas die Zeit messen, wenn sie bunte Steine vom Grund heraufholten, die er vorher hineingeworfen hatte. Arducius liebte solche Spiele. Sie stärkten die Verbundenheit der Aufgestiegenen und trugen hoffentlich auch dazu bei, den Bruch zwischen Kovan und Gorian zu kitten. Vielleicht war das aber auch zu viel erwartet. Besonders wenn das Objekt ihres Zwistes bei ihnen war. Er wünschte, Mirron würde den Konflikt ernster nehmen, aber sie schien es zu genießen.
Die Fischereiflotte war draußen in der Bucht, als sie am Strand ankamen. Nur eine Handvoll Boote lag noch am Ufer. Diener aus dem Haushalt hatten Kovans Einmaster schon aufgetakelt, und wie immer in der letzten Zeit waren einige Soldaten des Marschalls zugegen. Kovan war guter Dinge. Sein Vater war am Vorabend unerwartet eingetroffen, nachdem er am Phristos-See und in Glenhale zu tun gehabt hatte. Seine Anwesenheit gab der ganzen Stadt neuen Auftrieb, denn seit der Untersuchung lebten die Bürger in ständiger Sorge. Wenn er da war, fühlten sie sich sicher.
Gorian kniete am Ufer nieder und steckte eine Hand ins Wasser. Der aufkommenden Flut entgegen liefen kleine Wellen hinaus. Arducius kam zu ihm.
»Ist er da draußen?«
Gorian drehte sich lächelnd und mit strahlenden dunkelblauen Augen zu ihm um. »Ja«, sagte er. »Er kommt zu uns.«
Der Delfin brach dreißig Schritte weiter draußen durch die Oberfläche und schwamm bis ins Flachwasser. Gelegentlich hob er den Kopf und schnatterte in ihre Richtung.
»Er freut sich«, sagte Gorian. »Vielleicht ist da draußen ein großer Schwarm.«
»Wenn er da ist, dann hat Jen ihn zweifellos gefunden«, sagte Arducius.
»Zweifellos«, stimmte Gorian zu. »Eines Tages werden wir keine Fischereiflotte mehr brauchen. Dann können wir die Fische direkt bis zum Strand treiben.«
Arducius lachte. »Das glaube ich nicht, Gorian.«
»Du kannst es ruhig glauben«, sagte Gorian. Sein Gesicht war wieder ernst.
Ein Stück entfernt hatten die Diener das Boot schon zu Wasser gelassen und hielten es dicht vor dem Strand fest. Kovan war bereits an der Ruderpinne.
»Kommt her«, sagte er. »Steigt ein. Der Wettkampf beginnt.«
Auf einmal durchbrachen Glockenschläge den friedlichen Nachmittag. Der Delfin tauchte unter und verschwand. Die Wächter des Marschalls sprangen sofort auf und blickten zum Abhang, auf dem der Wachturm stand, der die Straße nach Cirandon schützte. Kovan kletterte aus dem Boot, die Aufgestiegenen versammelten sich um ihn.
»Was ist da los?« Ossacer hielt sich an Arducius’ Arm fest.
»Sie geben Alarm«, sagte Kovan. »Nephis, nimm die Abteilung aus unserer Villa. Hole meinen Vater, er ist oben am See. Ich bringe die Aufgestiegenen in die Villa der Autorität.«
»Ja, Herr«, sagte Nephis. Er und zwei seiner Kameraden rannten sofort los. Die anderen beiden stellten sich neben Kovan.
»Kommt«, sagte Kovan. »Ihr müsst in Deckung gehen.«
»Warum können wir nicht einfach aufs Meer hinausschwimmen?«, fragte Gorian.
»Nein«, entschied Kovan. »Ihr kennt doch die Absprachen. Außerdem könnt ihr nicht ewig da draußen bleiben. Kommt mit.«
»Du hast mir gar nichts zu befehlen«, erwiderte Gorian.
Arducius spürte, wie Ossacer seinen Arm fester packte. Er sah sich um und bemerkte auch Mirrons Miene. Sie starrte zur Anhöhe hinauf, wo immer noch die Glocken läuteten und Soldaten rannten. Dann wandte er sich an Gorian.
»Dies ist nicht der richtige Augenblick. Sie haben Angst. Wir werden
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