Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich
Schwertgriff gelegt.
»Nicht«, sagte Kovan. Er stand hinter der Kanzlerin und hatte ihr eine Hand auf die Schulter gelegt. »Nehmt die Hand da weg und befehlt euren Männern, die Waffen niederzulegen. Ich will die Kanzlerin nicht verletzen, aber ich werde es tun, wenn ich muss. Wenn auch nur ein Pfeil abgeschossen wird …«
»Ruhig, junger Mann«, sagte Vennegoor. Seine Stimme war schwach, und wie die Kanzlerin beobachtete er die Aufgestiegenen. Als er mit beiden Händen eine Geste machte, senkten die Krieger ihre Bogen. »Niemand muss verletzt werden.«
»Dazu ist es zu spät.« Gorian hatte sich gesetzt und wiegte Kessians Kopf in seinem Schoß. Der Vater atmete noch, aber nur sehr schwach. Ossacer hatte ihm die Hände aufgelegt und tat, was er konnte, um ihm zu helfen. »Ihr habt schon mehr Schaden angerichtet, als Ihr Euch vorstellen könnt.«
»Da seid ihr also endlich«, sagte die Kanzlerin. Ihr Gesicht war bleich, und auch ihre Stimme zitterte. »Diejenigen, die Gott abschaffen und über uns alle herrschen wollen. Eure Vorführung hat nur eure Schuld bestätigt. Es ist abscheulich. Schrecklich, schockierend und abscheulich. Und es muss aufhören. Hier und heute.«
Die Pferde näherten sich, und Vennegoor fasste sich wieder.
»Was willst du nun tun?«, sagte er zu Kovan. »Wir sind einhundert, und du hörst, dass sich weitere nähern. Du hast nur ein Schwert und ein paar, die wider alle Vernunft und gegen den Glauben einen Sturm erschaffen können. Du kannst nicht gewinnen. Lege das Schwert nieder, Junge. Lass geschehen, was geschehen muss.«
»Ihr werdet alle sterben, bevor ihr auch nur einen von uns verletzt«, sagte Gorian.
»Damit beweist ihr, dass das Böse in euch steckt«, sagte die Kanzlerin.
»Ich beschütze nur meine Leute«, sagte er. »Ihr habt keine Ahnung, was ich tun kann.«
Kessian fasste Gorians Hand. Als er die Augen öffnete, war Mirron unendlich erleichtert. Doch der Augenblick verging rasch. Ossacer schossen die Tränen in den Augen und rannen über seine Wangen.
»Tu es nicht, Gorian«, flüsterte Kessian. »Tu es für mich, lass es bleiben. Gib ihnen nicht den Grund, den sie brauchen. Hilfe ist unterwegs.«
»Für dich, Vater«, sagte Gorian nickend. Seine Stimme brach beinahe. »Aber nur für dich.«
»Guter Junge«, sagte der Alte. »Guter Junge. Vergiss nicht deine Bestimmung.«
Dann erschlaffte seine Hand, und er schloss die Augen. Alle Aufgestiegenen spürten, wie Grau sich zu Schwarz verdunkelte. Die Lebenslinien verblassten. Ein gesegnetes Leben verging.
»Nein!«, schrie Mirron. »Nein!«
Sie heulte und schmiegte den Kopf an Gennas Brust. Ihre ganze Welt war ein Scherbenhaufen. Ringsherum hörte sie Rufe. Kovans Stimme war stark und ruhig, Gorian war wütend und vorwurfsvoll. Arducius wollte sie zusammenhalten, konnte sich aber kaum verständlich machen, weil er schluchzte. Der Wind kam wieder auf. Donner krachte an einem Himmel, der von aufziehenden Wolken verdunkelt wurde. Sie hörte Lärm und rennende Füße. Schwerter klirrten, und schließlich übertönte eine einzige, befehlsgewohnte Stimme den Lärm und rief alle zur Ordnung.
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848. Zyklus Gottes, 25. Tag des Solasauf
15. Jahr des wahren Aufstiegs
V asselis musste besonnen handeln und seine Soldaten mit ruhiger Hand führen. Nachdem er Netta am See in einem Versteck unter Bewachung zurückgelassen hatte, kehrte er mit zehn Soldaten zurück. Als er sich der Stadt näherte, sah er schon die Menge auf dem Forum und wusste, dass der Orden nach Westfallen gekommen war.
Zwangsweise Versammlung und öffentliche Denunziation, das war ihre Methode. Die Frage, wie sie von den Aufgestiegenen erfahren hatten, musste warten.
Er galoppierte zum Eingang des Forums und zum Oratorium und teilte seine Truppe auf, um beide Treppen gleichzeitig anzugehen. Auf jeder Seite standen drei Wächter. Er ritt nach rechts. Pfeile erledigten die ersten beiden, dann sprang er vom Pferd, um den Dritten anzugreifen. Er zog seine Kavallerieklinge.
»Die Waffe weg«, sagte er.
Über ihnen auf dem Oratorium fielen barsche Worte, dann ertönte ein bekümmerter Schrei. Als der Ordenskrieger vor ihm nicht weichen wollte, griff Vasselis ihn an. Ihre Klingen prallten aufeinander, er drückte den Gegner nach rechts und schlug mit der linken Faust zu. Der mit Eisen verstärkte Handschuh brach dem Mann den Unterkiefer, und er sackte sofort zusammen. Vasselis stieß ihm die Klinge durch den Bauch und sprang über den leblosen
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