Die Kinderhexe
Stimme war nun eine fordernde geworden. «Was haben wir denn für ein spätes Vöglein hier? Solltest du nicht schon längst im Bett liegen?»
Kathi zerrte verzweifelt an der Hand der Alten. «So lasst mich doch los. Ihr tut mir weh.»
Das beeindruckte die Alte keineswegs. «Ja, schrei nur. Hier hört dich niemand, außer den Folterknechten. Sie werden viel Spaß an frischem jungem Fleisch haben. Glaube mir, das sehen sie nicht oft.»
Kathi zwang sich zur Ruhe. «Was wollt Ihr von mir?»
«Braves Kind», antwortete die Alte zufrieden. «Hast du etwas zu essen dabei?»
«Nein.»
Die Antwort löste Enttäuschung aus. Mit einem Ruck zog sie Kathi noch näher an das Gitter heran. «Dummes Stück. Hast du nicht gelernt, ein Geschenk mitzubringen, wenn du jemanden besuchst?»
«Ja, sicher, aber …»
«Nichts aber. Was hast du sonst dabei? Irgendetwas musst du doch haben.»
Fieberhaft dachte Kathi nach. Zu essen hatte sie nichts, und Geld schon gar nicht. Sie griff in eine Rocktasche und spürte Reste des Pulvers, mit dem sie heute gearbeitet hatte. Bei dem schlechten Licht konnte es leicht als etwas anderes durchgehen, etwas, das sich nur die Adeligen und Reichen leisten konnten oder ein Apotheker, wenn er daraus Zahnpulver herstellte.
«Hier habe ich etwas für Euch», sagte Kathi und hielt die geschlossene Hand über das Gitter.
«Was soll das sein?», zweifelte die Alte.
«Etwas, von dem du nur gehört hast. Das nur die Edlen am Hof des Bischofs bekommen.»
«Was ist das?»
«Es nennt sich Zucker und kommt von weit her. Es schmeckt süß wie Honig.»
«Bah», widersprach die Alte, «was kann das schon sein. Zucker …»
«Ich arbeite in der Apotheke. Da machen wir Medizin für den Hof. Glaub mir, es ist etwas Wunderbares, das du niemals vergessen wirst.»
«Ich glaube dir nicht.»
Zum Beweis führte Kathi die Hand zum Mund, öffnete sie und nahm mit der Zunge eine Prise der weißen Körner auf. Sie täuschte Genuss und Wohlempfinden vor. «Das ist gut.»
Die Zweifel der Alten schwanden. «Hör auf damit. Gib mir von dem Pulver, das nur die Edlen bekommen. Aber wage es nicht, mich zu betrügen. Ich habe dich fest am Schopf. Vergiss das nicht.»
«Aber wie soll ich es dir geben, wenn du mich mit der einen Hand festhältst? Du brauchst beide Hände, damit es dir nicht durch die Finger rinnt.»
«So dumm bin ich nicht, du kleine Hexe. Wenn ich dich loslasse, rennst du davon.»
«Dann bleibt nur noch eine Möglichkeit.»
«Welche?»
«Ich streue es dir direkt in den Mund.»
Die Alte zweifelte noch immer. «Und wenn du mich damit vergiftest?»
«Hast du nicht gesehen, dass ich selbst davon gekostet habe? Ich kann es gerne noch einmal tun, wenn du mir nicht vertraust.»
Sie führte die Hand zum Mund.
«Genug», erwiderte die gierige Alte. «Gib es mir.»
Kathi nickte und erwartete das Gesicht der Alten an den Gitterstäben.
Wie ein Ertrinkender den Kopf über Wasser hält, so tauchten aus dem Dunkel des Kellerlochs zuerst eine Nase, dann die dürren Wangenknochen und schließlich der Mund auf.
Auch wenn das Licht spärlich war, so erkannte Kathi doch, was für Schmerzen diese Frau erlitten haben musste. Ein Auge fehlte ihr, die Nase war krumm geschlagen, und eine tiefe Wunde über der Lippe eiterte. Fast hätte Kathi Mitleid mit dieser erbärmlichen Kreatur gehabt, wäre sie nicht so hinterhältig und raffgierig gewesen. Als sie den Mund öffnete und zitternd die Zunge herausstreckte, verschlug es Kathi den Atem.
«Nun mach schon», stammelte die Alte.
Vorsichtig ließ Kathi die weißen Körner von ihrer Hand auf die Zunge rieseln, dann plötzlich pustete sie der Alten den Rest ins Gesicht.
Der Schmerz kam so überraschend, dass Kathi sich losreißen konnte. Nur ein paar Strähnen blieben zwischen den verknöcherten Fingern zurück.
«Du Teufel!», schrie die Alte auf und spuckte aus, um den vermeintlichen Zucker, der Natron war, aus dem Mund und den Augen zu bekommen. «Du sollst in der Hölle brennen.»
Früher oder später könnte das durchaus der Fall sein, dachte Kathi. Sie erhob sich und blickte in den schwarzen Schlund hinab.
«Ihr seid eine bemitleidenswerte alte Schlange. Ich hätte Euch helfen können, wenn Ihr mir geholfen hättet.»
«Du dummes Ding», krächzte es aus dem Loch. «Die, die du suchst, ist mehr tot als lebendig. Morgen hat sie es hinter sich.»
Kathi schreckte auf. «Wieso morgen? Was geschieht morgen mit Babette?»
Doch aus dem Loch kam nur noch das
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