Die Kinderhexe
sie heimgeholt.»
«Dann sollten wir sie suchen. Sie kann bestimmt unsere Hilfe brauchen.»
Otto stimmte zu, aber bevor sie fragen konnten, wo Kathi geblieben war, kamen aus dem Tor sechs Folterknechte, jeder mit einem Spieß bewaffnet. Sie sahen nicht gerade vertrauenswürdig aus, was kein Wunder war, die meiste Zeit des Tages verbrachten sie in den Kerkern. Sie hatten so viel Leid gesehen und selbst herbeigeführt, dass ihnen jegliche menschliche Regung abzugehen schien. Sie sparten nicht mit Tritten und Hieben, als sie sich einen Weg durch die Menge bahnten.
«Warte», sagte Otto, «vielleicht sollten wir den Knechten folgen.»
«Warum?», fragte Barbara.
«Ich bin gespannt, ob sie die Paulus wirklich festnehmen. Die Paulus ist doch mit der Mutter vom Dürr so …» Er rieb zwei Finger aneinander, was bedeutete, dass die beiden dicke Freundinnen waren.
«Stimmt.» Barbara erinnerte sich. Die selbstgefällige Mutter Dürr glaubte, durch die Position ihres Sohnes Narrenfreiheit zu haben. Sie eckte mit jedem an, ließ Rechnungen unbezahlt und war für ein schlechtes Wort jederzeit zu haben. So hatte sie auch Hortensia Paulus kennengelernt, die mit ihrem Schandmaul der Dürr ebenbürtig war.
«Wenn auf Befehl von Hexenkommissar Dürr die beste Freundin seiner Mutter festgenommen wird, dann ist das doch einen Blick wert. Meinst du nicht?»
Und so folgten sie zwei Folterknechten. Die anderen vier gingen paarweise in verschiedene Richtungen davon, um Cornelius Grimm und den Stadtrat Bauth festzunehmen. Dieses Schauspiel wollten sich die Umstehenden nicht entgehen lassen.
An der Spitze des Zugs fanden sich die Kinder ein, die den Aufmarsch nicht nur aus Spaß anführten, sondern alles direkt miterleben wollten. Der Zug wurde immer breiter und länger. Barbara und Otto schauten sich erstaunt um.
«Wo kommen nur all diese Leute her?», fragte Barbara.
Otto wusste keine Antwort darauf. Er entdeckte Kinder, die er seit letztem Winter nicht mehr gesehen hatte. Kinder, deren Eltern auf dem Scheiterhaufen gelandet waren und die nun selbst schauen mussten, wie sie überlebten. Viele von ihnen hausten in verlassenen Kellern und schlugen sich mit den Ratten um die wenigen Nahrungsmittel. Sie kannten keine Regeln und keine Gesetze außer ihren eigenen, und die waren auf das pure Überleben ausgerichtet. Nun hatten sie sich aus ihren Löchern gewagt und sich mit ihren schwarzen Gesichtern, zerlumpten Kleidern und hungrigen Augen in den Zug eingereiht, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt. Obwohl Otto Mitleid mit ihnen hatte, fürchtete er sich auch vor ihnen.
Das Haus des Schulmeisters Paulus tauchte vor ihnen auf, ein stattliches Anwesen. Vereinzelt standen Nachbarn zusammen, tuschelten miteinander und erschraken beim Anblick der Menge, die da auf sie zukam. Noch war niemand vor oder im Haus der Familie Paulus zu sehen. Wahrscheinlich hatten sie sofort das Weite gesucht, als die Nachricht von der Anschuldigung zu ihnen gedrungen war. Doch das sollte sich als Irrtum erweisen.
Die Tür ging auf, und heraus kamen weder Hortensia Paulus noch ihr Mann, der Schulmeister, sondern Mutter Dürr. Sie war eine korpulente Frau mit roten Backen, der man den Hunger in der Stadt nicht ansah. Sie verstand es offenbar gut, die Beziehungen ihres Sohnes zu nutzen. Und so verhielt sie sich auch den Folterknechten gegenüber, denen sie glaubte Befehle erteilen zu können.
«Was wollt ihr?», fragte sie barsch.
Die Folterknechte hatten zwar mit Widerstand gerechnet, aber Mutter Dürr stand nicht auf ihrem Plan. Sie hatten sie schon einige Male erlebt, wenn sie ihren Sohn besuchte und sich über den Fortgang der Verhöre erkundigte. Meister Dürr war das stets unangenehm gewesen, und er hatte sie daran erinnert, dass sie an diesem Ort nichts zu suchen habe. Aber das interessierte die Alte kaum.
«Uns wurde befohlen», begann einer von ihnen, «die Hortensia Paulus zur Befragung abzuholen.»
«Wer hat euch das befohlen?»
Die Folterknechte schauten sich an und schienen sich zu fragen, was die Alte mit der Frage bezweckte. Sie wusste, dass allein ihr Sohn sie geschickt haben konnte und somit jeglicher Widerstand zwecklos war.
Die Kinder, die sich um die Folterknechte geschart hatten, nahmen dieses Zögern wahr. Sie spürten die Machtprobe zweier Autoritäten. Würde Mutter Dürr gewinnen oder ihr Sohn, der Hexenkommissar?
«Ihr wisst, werte Frau, wer uns das befohlen hat», antwortete schließlich der Mutigere der
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