Die Kinderhexe
Alles sei in Ordnung, Kathi habe sich nichts vorzuwerfen. Sie habe richtig gehandelt, als sie sich direkt an den Hexenkommissar gewandt hatte. Nachdem sie ihre Aussage gemacht hätte, stünde es ihr frei zu gehen. Helene wollte von so viel aufmunternden Worten nichts hören und brachte Kathi auf dem schnellsten Weg nach Hause. Dort machte sie Wasser warm, schüttete es in einen Waschzuber und wusch ihre Tochter von Kopf bis Fuß. Das geschah wortlos, denn Helene wollte zuerst sehen, ob Kathi irgendwelche Verletzungen davongetragen hatte. Als sie die Striemen auf ihren Schenkeln sah, ließ sie sich kraftlos auf dem Stuhl nieder.
«Was ist da passiert?», fragte sie sorgenvoll.
Kathi zögerte. Einen Hexenkommissar und einen Malefizschreiber in die Irre zu führen, war eine einfache Sache gewesen. Die Mutter aber würde jede Lüge bemerken. Außerdem musste sie eine Entscheidung treffen. Würde sie die Mutter in ihren Plan einweihen, oder würde sie die Mär von Babette und dem Hexenflug auch vor ihr aufrechterhalten?
Diese Frage hatte sie in den letzten Tagen umgetrieben. Schließlich war sie zu dem Entschluss gelangt, Helene aus allem herauszuhalten. Je weniger diese über die wahren Beweggründe wusste, desto geringer war die Gefahr für sie alle.
«Es ist so, wie ich es Meister Dürr gesagt habe. Die Wunden hat der Besen hinterlassen.»
«Herrgott, Kind!», fuhr Helene auf. «Weißt du, was du da sagst?»
Kathi blieb die Antwort schuldig. Sie blickte in Erwartung einer Schelte stur geradeaus.
«Der Vorwurf der Hexerei endet auf dem Scheiterhaufen. Das ist kein Spiel, hörst du. Hier geht es um Leben und Tod.»
Kathi wollte nichts davon hören. Wie sie es schon bei den Unterweisungen des Apothekers gehalten hatte, ließ sie ihre Gedanken reisen, während Helene auf sie einredete. Ihr Blick ruhte auf dem Kruzifix an der Wand.
Mit klaffender Wunde in der Seite erwartete Jesus auf einem klapprigen Gerüst sein Ende. Er hatte seine Kraft und die Hoffnung auf Erlösung von seinen Qualen eingebüßt. Es war nicht seine Entscheidung gewesen, so leiden zu müssen. Sein Vater hatte ihn auf die Erde geschickt. Für die Menschen, für ihre Sünden sollte er büßen, nicht für seine.
Babette hatte das gleiche Schicksal erfahren. Sie war für die Sünden anderer getötet worden.
Wie nach Jesu Tod der Himmel sich verfinstert hatte und die Mauern des Tempels eingestürzt waren, so würde nun Kathi die Erde erzittern lassen. Der Schalksberg war ihr Golgatha, auf dem die Mörder Babettes am Kreuz hängen sollten, bis die Knechte kamen und ihnen die Knochen brachen.
«Wer sind diese Leute, die du der Hexerei beschuldigst? Ich kenne sie nicht, und ich mag darauf wetten, sie kennen uns auch nicht. Also, was haben sie dir getan, dass du sie ins Verderben stürzt?»
«Sie sind des Teufels», antwortete Kathi kalt.
«So ein Unsinn. Du kennst sie nicht einmal.»
«Ich habe sie aber in seiner Gesellschaft gesehen.»
«Wo und wann soll das gewesen sein?»
«Auf dem Schalksberg, letzte Nacht.»
«Und wie bist du da hingekommen?»
«Der Geist von Babette hat mich hingebracht.»
«Ihr Geist? Um Himmels willen, sie ist tot. Ihr Geist, sofern sie jemals einen besaß, ist im Höllenfeuer mit ihr verbrannt. Sie war eine Hexe.»
«Die, die sie getötet haben, waren Hexen und Unholde. Babette war unschuldig und rein.»
«Babette, Babette», ereiferte sich Helene, «immer nur Babette. Was hat sie nur mit dir angestellt, dass du ihr mehr zugetan bist als mir.»
Kathi blickte auf ihre Mutter. «
Sie
hat mich geliebt.»
Die Worte trafen Helene bis ins Mark. Das Waschtuch glitt ihr aus den Händen, und Tränen rannen ihr über die Wangen. Schon viel früher, durchfuhr es sie, hätte sie erkennen müssen, dass ihre Tochter nach mehr verlangte als nur nach einem Bett und einem Frühstück.
Sie atmete tief ein, um die Kraft für vier einfache Worte zu finden.
«Ich liebe dich auch.»
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14
Hexenkommissar Dürr war nicht dafür bekannt, anstehende Entscheidungen auf die lange Bank zu schieben. Er hatte sich, gleich nachdem Kathi und Grit ihre Anschuldigungen erhoben hatten, mit seinem Kollegen Faltermayer beratschlagt, wie in diesem Fall vorzugehen sei. Zum ersten Mal traten Kinder in einem Verfahren wegen Hexerei als Ankläger auf. In den Gesetzestexten war dies nicht vorgesehen, daher lautete sein Vorschlag, die Rechtsgelehrten der Universität anzurufen. Sie sollten die Sachlage prüfen, bevor weitere
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