Die Kinderhexe
Schritte unternommen wurden.
Faltermayer stimmte zu, drängte allerdings auch zur raschen Tat, da er im Volk Unruhe verspüre. Der Bischof mache sich Sorgen und habe ihn angewiesen, eine Lösung herbeizuführen. So solle Dürr die Beschuldigten ruhig schon verhören, während er sich um das Gutachten der Universität kümmere.
Dürr willigte notgedrungen ein, wenngleich ihm bei dem Gedanken nicht wohl war, auf die Aussage eines Kindes hin gegen angesehene Bürger der Stadt vorzugehen. Er ahnte, was geschehen würde, wenn er sie foltern lassen musste.
Andererseits musste er schnell handeln. Als er von seiner Unterredung mit Faltermayer in die bischöfliche Kanzlei zurückkehrte, hatte sich vor dem Tor eine aufgebrachte Menge versammelt. Sie forderte den Bischof auf, ihre Kinder vor dem Zugriff von Hexen und dem Teufel zu schützen. Er solle endlich handeln, bevor es noch mehr Opfer zu beklagen gebe.
Dürr musste sich mit Hilfe von Folterknechten freies Geleit in die Amtsstube verschaffen.
Ein verängstigter Malefizschreiber empfing ihn. «Meister Dürr, dem Himmel sei Dank, dass Ihr zurück seid.»
«Seit wann geht das denn schon so?», fragte Dürr.
«Gleich nachdem Ihr gegangen wart, kamen sie. Gar ehrbare Bürger sind unter ihnen.»
«Ja, ich habe sie gesehen.» Er ahne, was geschehen würde, wenn er die Folterknechte losschickte, um die Beschuldigten zur Befragung abzuholen.
«Sag den Knechten Bescheid. Sie sollen Cornelius Grimm, Hortensia Paulus und Stadtrat Bauth vorführen.»
Der Malefizschreiber zögerte. «Und was geschieht mit Felicitas Dornbusch?»
Wenn er die Stimmung der Bürger richtig deutete, dann blieb Felicitas Dornbusch verschont. Aber das würde sich schon bald ändern, wenn neue Verdachtsmomente aufkamen.
«Nichts», antwortete Dürr. «Sie ist noch nicht so weit.»
Seit dem frühen Morgen wurde in der Stadt über nichts anderes gesprochen als über die Entführung von Kathi und Grit durch Babettes Geist. Während sich die Erwachsenen von der neuen Gefahr erschüttert zeigten, reagierten die Kinder anders. Zwar fühlten auch sie sich betroffen, schließlich ging es bei dem Vorfall um eine der ihren – um Kathi. Grit zählten sie nicht dazu, sie gehörte zur Welt der Erwachsenen. Aber die entscheidende Reaktion war ein andere, wobei … es war mehr ein Gefühl.
Sie fragten sich: Seit wann schenkten die Erwachsenen einem Kind so viel Aufmerksamkeit? Seit wann lag ihnen das Schicksal eines Kindes so am Herzen? Seit wann konnten die Worte eines Kindes eine derartige Reaktion auslösen?
Wussten die Erwachsenen denn nicht, dass der Teufel auch Kinder holen konnte? Jeden Tag hörten sie davon. In der Kirche, in der Schule, bei der Arbeit und zu Hause. Bisher hatten die Kinder es immer für eine Lüge der Erwachsenen gehalten. Eine Lüge, die ihnen Angst einjagen sollte. Eine Lüge, an Gott und dessen Worte zu glauben, und eine Lüge, dass Ungehorsam sie auf direktem Weg in die Hölle brachte.
Nun aber wurden auf Geheiß eines Kindes die Folterknechte losgeschickt, um drei Erwachsene für eine Befragung zum Hexenkommissar zu bringen. Konnte das tatsächlich geschehen?
Folglich musste an den Lügen der Erwachsenen doch etwas Wahres dran sein. Oder es gab eine andere Erklärung: Die Erwachsenen hatten schlichtweg den Verstand verloren.
Tatsache war, dass soeben etwas nie Dagewesenes, Großes und Unvorstellbares vor sich ging. Da mussten sie unbedingt mit dabei sein.
Barbaras Arbeitstag in der Gerberei hatte gerade begonnen, als er schon wieder vorbei war. Des Meisters Eheweib war kreidebleich in die Werkstatt gestürzt, um ihrem Mann die Neuigkeiten mitzuteilen. Worauf er, zu Anfang ungläubig, dann erschrocken, sein Weib aufforderte, die Kinder in Sicherheit zu bringen, und hinaus auf die Straße lief. Dort traf er die Nachbarn, die, ebenso alarmiert wie er, beschlossen, zur bischöflichen Kanzlei zu gehen.
Minute um Minute strömten mehr herbei, und alle fragten sich, ob die Berichte der Kinder tatsächlich stimmten, und wenn ja, was der Bischof zu unternehmen bereit war, damit ihre Kinder der Gefahr entkamen.
Barbara hatte, wie viele andere Kinder auch, ihre Arbeitsstätte verlassen und war den Erwachsenen gefolgt. Vor dem Tor der Kanzlei traf sie Otto.
«Kannst du das glauben?», fragte Otto sie. «Das ist doch unvorstellbar.»
Barbara nickte. Ihr fehlten die Worte. «Hast du Kathi gesehen?»
«Nein», antwortete er. «Entweder ist sie noch dadrin, oder ihre Mutter hat
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