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Die Kinderhexe

Die Kinderhexe

Titel: Die Kinderhexe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roman Rausch
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Vorgängen auf dem Marktplatz nichts mit. Helene hatte ihr befohlen, in der Kammer zu bleiben, um sie vor den Familien der Angeklagten zu schützen. Außerdem versuchte sie, ihrer Tochter zu helfen, indem sie das Gerücht verbreitete, Kathi läge im Fieber und rede wirres Zeug. Sie sei weder mit dem Geist Babettes ausgefahren, noch habe sie auf dem Schalksberg irgendjemanden erkannt. Alles sei ein schrecklicher und fiebriger Irrtum, der sich bald auflösen werde.
    Doch niemand wollte ihr so recht glauben. Schließlich gab es ja noch ein zweites Mädchen, die Dirne Grit, die Gleiches behauptete. Deren Vorwurf sei zwar aufgrund ihres Rufs weniger glaubhaft, aber der werte Vikar Ludwig setze sich für sie ein, und das wolle auch etwas heißen.
    Kathi stand am Fenster und blickte zu ihrer Mutter hinab, die in ein Gespräch mit Nachbarn und Passanten vertieft war. Helene würde es niemals schaffen, sagte sie sich, die aufgebrachten Gemüter zu beschwichtigen. Dafür ging es um zu viel, als dass ein vermeintliches Fiebergeschwätz den Verdacht entkräften konnte, die Kinder der Stadt seien in Gefahr. Also legten die Bürger die Verantwortung für das weitere Geschehen in die Hände des Bischofs. Er und seine Helfer waren studierte Leute. Wenn es sich um eine Lüge handelte, dann würden sie sie schnell aufdecken. Und bis dahin würde er seine Kommissare zur Arbeit anhalten, damit jedweder Verdacht, und sei er anfangs noch so abwegig, der Wahrheit gegenübergestellt wurde.
    Nicht einen Moment hatte ihre Mutter die Möglichkeit erwogen, sie habe die Wahrheit gesprochen. Das wunderte Kathi. Nahm Helene sie etwa nicht ernst? Sicher, der Mutter etwas vorzumachen, war noch nie einfach gewesen. Aber nachdem der Hexenkommissar Dürr und die Bürger der Stadt ihr glaubten, war sie davon ausgegangen, auch Helene sei beeindruckt.
    Kathi dachte nach, wie es weitergehen sollte. Wenn sie erneut befragt wurde, musste auch der leiseste Verdacht ausgeräumt sein, sie sei eine Lügnerin. Andernfalls würde sie sich vom Kerker und der öffentlichen Züchtigung nicht mehr retten können. Danach würde sie der Bischof der Stadt verweisen. Vor ihren Toren, verdammt zum Bettelstab und den Wirren eines heraufziehenden Kriegs ausgeliefert, war das Leben eines vogelfreien Mädchens nichts wert.
    Hoffentlich hielt sich Grit an den gemeinsamen Plan. Wenn die wundersame Wandlung einer Dirne zu einer gottesfürchtigen Büßerin gelang, war ein erster, wichtiger Schritt getan. Alles Weitere sollte einfacher sein. Schließlich gab es eine allseits bekannte biblische Vorlage, die Vikar Ludwig ungehörigen Mädchen einzuschärfen nicht müde wurde – den Aufstieg der Maria Magdalena von einer Straßendirne zur Vertrauten Jesu und seiner Mutter, von der Fußwaschung einer Dienerin zur glorreichen Erhebung in den Stand einer Heiligen. Es gab also noch Hoffnung.
    Ein Junge, er mochte fünf oder sechs Jahre alt sein, flüchtete sich an den Rock seiner Mutter. Er redete aufgeregt und zeigte hinüber zum Marktplatz. Kathi konnte nicht verstehen, was sich dort unten abspielte, aber als sie den versteinerten Gesichtsausdruck ihrer Mutter sah, wusste sie, dass etwas passiert sein musste.
    Sie öffnete das Fenster, was ihr Helene eigentlich streng untersagt hatte, und rief hinunter: «Mutter, was ist geschehen?»
    Helene hörte ihre Tochter sofort. Statt einer Antwort und der Ermahnung, das Fenster wieder zu schließen, erhielt Kathi einen verwirrten, rätselhaften Blick.
    «Sagt, Mutter, was ist passiert?», fragte sie erneut.
    Doch Helene schüttelte nur den Kopf. Dann folgte sie den anderen zum Marktplatz hinüber.
    Was ging da unten vor? Die Ungewissheit nagte an Kathi. Es musste etwas mit ihrer Aussage zu tun haben. Die ganze Stadt war deswegen auf den Beinen. Sie nahm ein Tuch ihrer Mutter, warf es sich über den Kopf und rannte die Treppen hinunter.
    Aus den Gassen strömten die Bürger auf den unteren Markt. Unweit des Stachels rotteten sie sich zu einer beeindruckenden Menge zusammen, in ihrer Mitte Vikar Ludwig. Zu seinen Füßen lag Grit mit blutigem Rücken. Er wetterte gegen die Ungläubigkeit des Volkes.
    «Wer seid ihr, dass ihr euch gegen dieses arme Ding erhebt? Was hat sie euch getan, dass ihr glaubt, sie habe den Tod verdient? Und wer, außer den Zauberern, Hexen und Unholden, hat überhaupt den Tod verdient? Der Lügner? Der Ehebrecher? Die Dirne?
Wem ihr die Sünden vergebt, dem sind sie vergeben; wem ihr die Vergebung verweigert, dem ist sie

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