Die Kinderhexe
herab – so empfand sie die strenge Miene dieses hageren Mannes mit weißer Halskrause und braunem Bart. Als Vater des fränkischen Volkes wurde er verehrt. Er hatte die Universität und das nach ihm benannte Spital erbaut. Aus eigenen Mitteln hatte er Ländereien und beste Weinlagen erworben, um die daraus erzielten Gewinne in sein Stift fließen zu lassen, das den Armen, Kranken, Waisen und Pilgern als Zufluchtsort und Krankenhaus diente.
Aber dieser wohltätige und überaus beliebte Julius Echter hatte auch ein anderes Gesicht. Er betrieb die Verfolgung und Verbannung der Lutherischen und der Juden genauso eifrig wie die erste große Jagd nach Hexen und Unholden in den Jahren 1616 und 1617. Jeden Dienstag ließ er bis zu fünfundzwanzig Hexenleute auf dem Scheiterhaufen bei Gerolzhofen verbrennen. Allesamt kamen sie vom Land, kein einziger Würzburger Bürger war unter ihnen. So ging es zwei Jahre lang. Erst der Tod beendete sein gottgefälliges Tun.
Wenn Julius Echter geahnt hätte, dass sich nur wenige Jahre später sein geliebtes Würzburg in eine Brutstätte von Hexen und Zauberern verwandeln würde, dann hätte er wohl schon zu Lebzeiten diesseits der Stadtmauern nach der teuflischen Krankheit gesucht, die für die Hexenseuche verantwortlich gemacht wurde. So aber blieb es seinen Nachfolgern Johann Gottfried von Aschhausen und Philipp von Ehrenberg vorbehalten, das Versäumte nachzuholen.
Kathi ging den endlosen Gang im Hospitalbau entlang. Als Erstes fielen ihr die Gerüche auf. Einige kannte sie aus der Apotheke, andere von der Straße, wenn die Krankheiten bereits weit fortgeschritten waren.
Aus den Zimmern drangen Wehklagen, Gejammer und Geschrei. Die Frauen, die den gut ausgebildeten Ärzten zur Seite standen, kümmerte das nicht. Sie machten einen erschöpften Eindruck, als wären sie seit Tagen nicht mehr zur Ruhe gekommen. Ebenso wenig scherten sie sich um Kathi. Sie hielten sie für ein weiteres Waisenkind, das Aufnahme im Juliusspital gefunden hatte und damit dem Hungertod entkommen war.
«Geh doch runter in den Hof», sagte schließlich eine Schwester zu ihr, «dort spielen die anderen Versteck.»
«Ich warte auf eine Freundin, die in der Küche arbeitet», antwortete Kathi.
«Wie heißt sie denn?»
«Gertrud.»
«Dann brauchst du nicht mehr lange warten. Gleich ist Essenszeit.»
Und so war es auch. Mit einem klappernden Handwagen kamen vom anderen Ende des Gangs zwei Frauen und ein Mädchen auf sie zu. Sie verteilten aus einem großen Kessel Essen an die Bettlägerigen, und wer sich noch halbwegs bewegen konnte, hielt ihnen die Schüssel entgegen.
Gertrud winkte Kathi zu sich. «Du suchst Anna?»
Kathi nickte.
«Dann warte noch ein wenig, bis wir das Essen verteilt haben.»
Es sollte nicht lange dauern, dann war der Kessel leer.
Gertrud nahm sie an die Hand und führte sie ein Stockwerk höher, direkt unter das Dach. Eine Schüssel mit Kohlsuppe und Brot hatte sie mit dabei.
«Wo bringst du mich hin?», fragte Kathi.
«Anna ist in einer Kammer, zu der nur Doktoren und ein paar Schwestern Zutritt haben. Dort wird sie untersucht. Du kannst also nicht lange bleiben.»
«Was geschieht mit Anna?»
«Sie ist ein seltsamer Fall. Um einer Ansteckung vorzubeugen, wurde sie von den anderen Waisenkindern getrennt.»
«Ist sie denn krank?»
Gertrud zuckte mit den Schultern. «Die Ärzte wollen kein Risiko eingehen. Du weißt ja, wo sie letzte Nacht gewesen sein will.»
«Glaubst du ihr das?»
«Kann ich nicht sagen. Die Schwestern sind jedoch besorgt. Sie behandeln sie, als habe sie eine schlimme Krankheit.»
Vor dem betreffenden Raum angekommen, zog Gertrud einen Schlüssel aus der Rocktasche und öffnete damit die Tür.
«Nimm das», sagte sie zu Kathi und drückte ihr das Brot und die Schüssel mit Kohlsuppe in die Hand. «Wenn jemand kommt, sag einfach, dass du die neue Aushilfe bist. Du hast Anna das Essen gebracht. Ich bin in ein paar Minuten zurück und hole dich wieder ab.»
Kathi tat, wie ihr befohlen. Mit Brot und Schüssel betrat sie den Raum. Er war auffallend hell, trotz des schmalen Gaubenfensters. An der weiß getünchten Wand hing ein Kreuz, darunter brannten auf einem Betschemel zwei Kerzen. Zu ihrer Linken standen Tisch und Stuhl, darauf lagen die Gerätschaften, die man für einen Aderlass benötigte.
«Wer bist du?», hörte sie jemand zu ihrer Rechten sagen. «Dich habe ich hier noch nicht gesehen.»
Kathi sah ein Mädchen von elf, vielleicht zwölf Jahren.
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