Die Kinderhexe
besser den Mund zu halten.
Da war diese unberechenbare Anna, die sie abfällig musterte. Was machte sie hier? Was hatte sie mit den anderen zu schaffen? Ulrich und Benedikt waren ihr freundlicher gesinnt. Ein schüchternes Lächeln lag auf ihren Gesichtern. Kathi fiel bald Ulrichs rechte Hand auf. Er hielt sie mittlerweile zu einer Kralle verkrampft. Unkontrolliert zuckte sie so stark, dass sie den Körper nach sich zog. Die Vergiftung seines Körpers durch Arsen und Quecksilber musste bedrohlich fortgeschritten sein. Wenn er nicht bald von da fortkam, stand ihm ein fürchterlicher Tod bevor.
Ihr Blick wechselte zu Benedikt, dem Ältesten der Klasse. Er arbeitete in einer Drechslerei. Weitaus gefährlicher als herumfliegende Späne und ein strenger Lehrmeister war das Damoklesschwert, das über ihm hing. Die Schwester seiner Mutter war als Hexe verbrannt worden. Es würde nicht mehr lange dauern, bis der Verdacht auf seine Eltern und auch auf ihn selbst übersprang. Flucht war die einzige Rettung. Doch wohin? Es gab niemanden, der sie aufnehmen würde. Die Gefahr, dafür bestraft zu werden, war zu groß. Sie mussten eine andere Lösung finden.
Schließlich war da noch dieser unbekannte Junge, Andreß, der sich bei jeder Hinrichtung in vorderster Reihe aufhielt. Seinem Verhalten nach zu urteilen, berührten ihn die grausamen Folterungen und Tötungen überhaupt nicht. Wenn andere Kinder entsetzt den Blick abwandten oder erstarrten, schnitt er Grimassen, hüpfte vor Freude von einem Bein aufs andere und stellte die Leiden der Verurteilten nach. Er war ein sonderbarer Kauz. Kathi empfand Ekel vor ihm, wobei sie ihn gleichzeitig auch bemitleidete. Dieser Junge von fünf oder sechs Jahren hatte in seinem kurzen Leben schon so viele Menschen auf die schrecklichste Weise sterben sehen, dass man sich nicht wundern musste, wenn er dem Schwachsinn verfiel.
In die Stille platzte ein Hilferuf, der einem Flehen gleichkam. Er drang durch die Tür aus der anderen Kammer herein.
«Bei meiner Seel’, Herr. Ich spreche die Wahrheit.»
Die Kinder schreckten auf. Was geschah da, dass ein Kind um Hilfe rief? Andreß aber sprang auf und äffte das unglückliche Kind nach. «Bei meiner Seel’, bei meiner Seel’.»
Dazu machte er ein weinerliches Gesicht und hüpfte närrisch herum, wie es ein Eulenspiegel oder ein Gaukler vom Jahrmarkt tat. «Morgen früh um sechs kommt die kleine Hex’. Morgen früh um sieben lässtse Mäuse fliegen. Morgen früh um acht …»
Hätte der Aufschrei Kathi nicht bis ins Mark getroffen, hätten zwei Ohrfeigen wieder für Ruhe gesorgt. Aber diese Stimme kannte sie doch. Wie um alles in der Welt …
Die Eingangstür öffnete sich, herein kam der Hexenkommissar Faltermayer. Er wirkte ernst und schaute sich ein Kind nach dem anderen an. Irgendetwas suchte er in ihren Gesichtern zu lesen. Eine Antwort? Auf welche Frage? Kathi fühlte sich bei seinem bohrenden Blick auf der Stelle unwohl, versuchte ihm aber standzuhalten. Unschlüssig ging Faltermayer weiter, hinüber in die andere Kammer. Kathi schaute ihm in der Hoffnung nach, etwas mehr von diesem Kind zu sehen, das sie gut kannte, wie sie glaubte. Aber an der stattlichen Erscheinung Faltermayers gab es für ihre Blicke kein Vorbei.
«Morgen früh um neun brennt runter die Scheun.»
«Sei endlich still», fuhr Grit Andreß unvermittelt an, sodass er erschrak. Doch nur für einen Augenblick. Sobald er erkannt hatte, dass von ihr keine Gefahr ausging, fuhr er fort.
«Morgen früh um zehn gibt’s ein Heul’n und Fleh’n.»
Der Folterknecht öffnete die Tür. «Ihr zwei», sagte er und deutete auf Ulrich und Benedikt. «Reinkommen.»
Die beiden erhoben sich und folgten mit bangem Herzen.
Grit, Anna und Kathi schauten sich an. Jetzt waren sie allein, eine gute Gelegenheit, um herauszufinden, weswegen sie einbestellt wurden. Nur Andreß störte. Keiner wusste, was von ihm zu halten war, Vorsicht war geboten.
«Du bist also dieses Mädchen, von dem so viel gesprochen wird», sagte Anna ungeniert und brach damit das Schweigen. Sie hatte offenbar keine Bedenken.
«Was hast du denn von mir gehört?», antwortete Kathi.
«Dass du auf dem Schalksberg warst.»
Grit schaltete sich ein. «Wer hat dir das erzählt?»
«Babette», erwiderte Anna. «Sie hat mich letzte Nacht besucht.»
Kathi und Grit stutzten. Ihre Phantasiegestalt sollte Anna besucht haben? Was bezweckte dieses hinterhältige Ding damit?
«Dann weißt du ja auch, wie sie
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