Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Kinderhexe

Die Kinderhexe

Titel: Die Kinderhexe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roman Rausch
Vom Netzwerk:
kamen, über die man vom Ufer in die Stadt gelangte. Ein Stadtknecht musste sie beim plötzlich einsetzenden Gewitterregen zu schließen vergessen haben. So schlüpften sie durch den engen Spalt hinaus und fanden sich vor einer langen Reihe schwankender Fischerboote wieder.
    Aus deren Bäuchen drangen keine Gerüche zu ihnen, der Regen wusch alles rein. Hungrig und durchnässt machten sie sich auf den Rückweg am Fluss entlang, als ein Welpe das Rudel plötzlich zu sich rief. Er hatte etwas gefunden. Schnuppernd schlich er um das leblose Ding herum. Seine Eltern hatten ihn gelehrt, diesen Geruch zu meiden und schnellstens das Weite zu suchen, wenn er ihm in die Nase stieg. Aber in diesem Fall war da noch ein zweiter Geruch. Der Geruch von frischem Blut.
    Der Leitwolf schreckte zurück, als er auf die Leiche eines Menschen stieß. Jemand hatte ihm den Schädel eingeschlagen. Nasses, verbranntes Holz, Rauch und der Geruch eines Bratens umgaben ihn. Doch unter allen Gerüchen war der des Blutes am stärksten und am verlockendsten.
    Der Wolf blickte sich um. Es konnte sich auch um eine Falle handeln. Doch in dieser Dunkelheit und bei diesem Wetter würde sich kein Mensch vor die Tür wagen, so viel hatte er im Umgang mit seinen Feinden gelernt. Er hob den Kopf und stieß ein kurzes Geheul aus, das den Brüdern und Schwestern signalisierte, die Jagd sei beendet. Nun war es Zeit zu essen.
    Auf den Ruf des Wolfs und die wild zuckenden Blitze am Himmel folgte ein weiterer Jäger, der die Palisaden hochgeklettert kam. Sein Name war Lorentz.

[zur Inhaltsübersicht]
    24
    Bei Tagesanbruch wurde das Ausmaß des Gewitters offenbar. In den flussnahen Gebieten hatten sich die Ufer des Mains bis an die zweite Häuserreihe ausgeweitet. Die Palisaden hatten Schlimmeres verhindert, abgerissene Äste, gekenterte Boote und totes Getier waren an der Bischofsstadt vorbeigetrieben.
    In den Straßen blieb jedoch eine übel riechende Brühe zurück, die mancherorts bis an die Knöchel reichte. In ihr trieben Abfälle, herrenloser Hausrat und Fäkalien von Mensch und Tier. Wer konnte, vermied es, vor die Tür zu gehen. Ein Tuch vor Nase und Mund sollte den Gestank und die Krankheitserreger abhalten, was nahezu aussichtslos war. Allein der noch immer anhaltende Regen wusch die Luft ein wenig und machte sie damit etwas erträglicher.
    Kathi hatte schlecht geschlafen. Eine beängstigende Unruhe trieb sie um, wann immer sie die Augen schloss. Henriettes im Tod erstarrtes Gesicht hatte sich ihr eingebrannt. Es schrie sie an:
Hättest du nur den Mund gehalten, dann wäre das alles nicht passiert.
    Ursulas beschwichtigende Worte konnten sie nicht trösten. Stattdessen sah sie Lene und Lotti stumm abseits von den anderen im Speiseraum des Klosters sitzen – vor ihnen eine Schüssel mit Haferbrei, unberührt und erkaltet.
    Pfarrer Ludwig forderte sie auf, zu den anderen zu kommen oder zumindest etwas zu essen, aber die beiden blieben auch für ihn unerreichbar. Er setzte an, um es ihnen zu befehlen, ließ es dann aber sein. Es machte keinen Sinn.
    «Sie sind nicht die Ersten und sicher nicht die Letzten, die ihre Mutter verloren haben», sagte Grit beiläufig. Sie saß Kathi gegenüber und löffelte den warmen Brei aus der Schüssel. «Sie werden lernen müssen, damit zu leben.»
    Noch gestern wäre Kathi ihr für diese schnoddrige Bemerkung über den Mund gefahren, aber nachdem Ursula von dem durchlöcherten Wickeltuch erzählt hatte, schwieg sie. Sie hatte geglaubt, alles über Grit zu wissen, so wie jeder in dieser Stadt. Doch niemand hatte sich bisher für ihre Vergangenheit interessiert. Was hatte sie erlebt, das sie zu einer Dirne hatte werden lassen? Welches Geheimnis trug sie unter der sternförmigen Narbe auf ihrem Rücken? Und warum hatte sie sich ausgerechnet den verheirateten Christian Dornbusch als ihren Schatz ausgesucht, und nicht einen wohlhabenden Durchreisenden, der ihren Ruf nicht kannte? Gelegenheiten soll es zahlreiche gegeben haben.
    «Sie werden dem Tag entgegenfiebern», schaltete sich Anna ein, die neben Grit saß und zu ihrer neuen Vertrauten geworden war, «an dem ihr Vater auf dem Scheiterhaufen zu einem Haufen Asche verbrannt ist. Erst dann ist die Tat gesühnt.»
    Kathi und Ursula bezweifelten das. Ihre Väter waren schon lange tot oder verschwunden, aber noch immer hatte sich die Wunde nicht geschlossen. Und eine Mutter wog noch mehr.
    «Du kannst nicht ersetzen, was sich nicht ersetzen lässt», antwortete Ursula

Weitere Kostenlose Bücher