Die Kinderhexe
Ein geeignetes Objekt hatte er auch schon im Auge. Drüben, auf der anderen Mainseite, im Schutze der bischöflichen Burg und in der Nähe des Deutschherrenhauses, stand ein Gebäude leer. Dort würde er zu Ehren des heiligen Nikolaus, des Schutzpatrons der Kinder, eine neue Schule gründen.
Kathi hielt die Hand ihrer Mutter fest umschlungen. Je näher sie den Scheiterhaufen und der lärmenden Menge kamen, desto ängstlicher wurde sie. Sie konnte sich nicht erklären, woher dieses beklemmende Gefühl plötzlich kam, aber wenn sie in die hasserfüllten Gesichter der Menschen blickte, spürte sie, wie ihr bang ums Herz wurde. Wieso gerade jetzt, fragte sie sich, mit den Scheiterhaufen vor Augen erfüllte sich doch ihr Plan. Sie durfte nicht davon ablassen. Sie war kurz vor dem Ziel.
«Was ist mit dir?», fragte Helene, die spürte, wie ihre Tochter mit sich rang.
Diese wich der Frage aus. «Es ist nichts. Ich bin nur etwas aufgeregt.»
Während der Zug mit dem Kruzifixträger an der Gerichtsschranne endete und Dürr und Faltermayer von den Pferden absaßen, führte Ludwig die Kinder in einen zweiten, von der Menge abgegrenzten Bereich. Er lag gleich nebenan und nahm die Karren mit den Malefikanten auf sowie den Wagen des Henkers mit den Werkzeugen. Die bewaffneten Stadtknechte bezogen davor Stellung, um jeglichen Übergriffen seitens der gereizten Menge vorzubeugen.
Der Malefizschreiber beeilte sich derweil, die notwendigen Unterlagen für die anstehende Verlesung der Klage auf einem schwarz eingedeckten Tisch vorzubereiten. Neben dem dicken, ledernen Gesetzbuch und dem Gerichtsstab kamen einundzwanzig Klageschriften zum Vorschein. Er legte sie fein säuberlich Kante an Kante, sodass sie den größten Teil des Tisches einnahmen.
Faltermayer knurrte ihn deswegen an. «Willst du das Gericht alleine leiten? Schaff Platz, Schreiberling, bevor ich dich auch auf die Liste setze.»
Der Schreiber nahm die Drohung ernst. Er sammelte alles wieder ein und legte die Anklageschriften nun aufeinander. Als er endlich fertig war, gab er den Stadtknechten ein Zeichen, die Malefikanten vorzuführen. Die Ketten, mit denen sie an den Karren gebunden waren, rasselten durch die Ringe. Im Büßerhemd und mit gesenkten Häuptern ließen sie sich widerstandslos vor das Gericht treiben, wo sie sich in zwei Reihen aufzustellen hatten. Wie an allen Brandtagen zuvor war ihr Wille längst gebrochen. Es gab nichts mehr zu gewinnen. Das Einzige, worauf sie in der Urteilssprechung noch hoffen konnten, war ein schneller, an Schmerzen armer Tod.
Dürr und Faltermayer beobachteten den Vorgang gewohnt gelassen. Sie waren die Herren des Verfahrens, sie gaben den Ausschlag zwischen unbarmherzigem Leid und schneller Vollstreckung. Als Ankläger und Richter in einer Person hatten sie mit dem von ihnen angefachten Zorn des Volks nichts zu schaffen.
Ein Knecht schenkte Wein ein, und sie ließen sich alle Zeit, die Becher zu leeren. Dann gab Dürr dem Malefizschreiber Anweisung, mit der Verlesung der Anklageschriften zu beginnen.
Die Trommler legten sich ins Zeug, um die mehr als tausend Schaulustigen zum Schweigen zu bringen.
«Vor dem hohen Malefizgericht zu Würzburg sind erschienen …»
Kathi reckte wie viele andere auch den Kopf nach den Angeklagten. Welcher Name gehörte zu welcher Person? In welchem Zustand waren sie nach den Verhören und der Folter? Würde jemand die Kraft aufbringen, sein Geständnis zu widerrufen?
Einige Namen wurden genannt, die Kathi schon einmal gehört hatte, andere waren ihr völlig unbekannt. Wo waren die drei unter den einundzwanzig, die sie beschuldigt hatte? Sie hatte sie noch nicht zu Gesicht bekommen. Ihre Aufregung wuchs, und als die Namen Cornelius Grimm, Hortensia Paulus und Joachim Bauth endlich ausgerufen wurden, glaubte sie, alle Blicke richteten sich auf sie und nicht auf die Angeklagten.
«Geht es dir nicht gut?», fragte Helene. Erneut hatte sie das Gefühl, dass in ihrer Tochter etwas vorging. Ihre Hand war feucht und kalt.
Kathi räusperte sich. Eine Antwort war nicht so leicht. Ihre Zunge fühlte sich geschwollen und ausgetrocknet an, sodass ihr die Worte beinahe im Halse stecken blieben.
«Sorgt Euch nicht, Mutter. Es geht mir gut.»
Sie blickte zur Seite, um zu sehen, wie es den anderen Kindern erging. Da war Grit, die sich auffallend unwohl in ihrer kindlichen Kleidung fühlte und sich nach jemandem umsah, den sie offenbar nicht finden konnte. Anna trat von einem Bein aufs andere. Ihr
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