Die Kinderhexe
braucht Euch nicht zu sorgen.»
Selten zuvor war eine ihrer Lügen so offensichtlich gewesen. Helene streichelte zärtlich ihre Wange und redete ihr ins Gewissen. «Bist du sicher, dass du das willst?»
«Ja, Mutter», antwortete sie.
«Du kannst alles rückgängig machen. Ein Wort genügt.»
Kathi nickte.
«Eine Lüge ist eine schlimme Sünde, und es ist unverzeihlich, wenn deswegen ein Mensch stirbt.»
«Ich weiß, Mutter.»
Ohrenbetäubendes Geschrei erhob sich, als das Tor der Kanzlei geöffnet wurde.
Zuerst kam ein Stadtknecht heraus, ein großes hölzernes Kruzifix vor sich hertragend. Die Menge trat zur Seite und bildete eine Gasse. Es folgten zu Pferd die Hexenkommissare Dürr und Faltermayer, dahinter der Malefizschreiber zu Fuß, Stadtknechte in Rüstung und mit Spießen, dann der Henker und sein Gehilfe und schließlich drei von Ochsen gezogene, offene Karren, auf denen die Todgeweihten an schweren Ketten gefesselt eng beieinandersaßen. Auf jedem Karren befand sich ein Priester, der die armen Hexenleute zum Gebet anhielt. Den Zug beschloss ein von Gäulen gezogener Wagen, in dem sich die Werkzeuge des Henkers befanden.
«Kommt jetzt», hielt Ludwig die Kinder an und reihte sie hinter den Hexenkommissaren ein.
Kathi war nicht wohl bei der Sache. Sie sah die Gasse, durch die sie hindurchmussten, und die nach Vergeltung fiebernden Gesichter der Bürger. Sie konnte nur hoffen, dass niemand ihre Angst, aber auch ihre Schuld spürte.
Der schwachsinnige Andreß dagegen war ganz in seinem Element. Er war nicht mehr zu halten, schnitt Grimassen und äffte Schaulustige wie auch Gefangene nach. Manch einer mochte sich fragen, ob der Bengel nicht besser auf einen der Karren gehörte.
Als der erste Wagen die Menge passierte, bewahrheitete sich Kathis Befürchtung. Steine kamen geflogen, Prügel tanzten über den Köpfen der verängstigten Gefangenen. Auf Befehl Dürrs gingen die Stadtknechte mit ihren Spießen dazwischen.
Ludwig schützte die Kinder, so gut es ging.
«Geht weiter», rief er ihnen zu. «Betet!»
Auch der eher ängstliche Malefizschreiber kam herbei. Er breitete tapfer seinen Mantel über die Kinder aus.
Faltermayer musste die aufgebrachte Stimmung im Volk geahnt haben. Auf sein Zeichen hin kamen weitere Stadtknechte und drängten den Pöbel zurück. Mit ihrer Hilfe konnte die Formation gehalten werden, und sie schafften es ohne größere Zwischenfälle zum Sandertor.
Das Hochwasser hatte große Teile des Sanderangers in Besitz genommen, sodass sich die Schaulustigen auf engem Raum drängten. Wo man auch ging, drang Wasser in die Schuhe ein. Wer es sich leisten konnte, war zu Pferd gekommen. Händler boten ihre Waren feil. Ihr Geschrei mischte sich mit dem Geplapper der Bürger. Hier und da traten auch Gaukler auf, Musikanten sah man keine.
Vor den Scheiterhaufen war die übliche Gerichtsschranne mit Holzstangen abgesteckt worden. Bewaffnete Stadtknechte sorgten für deren Einhaltung. Sie ließen sich auch von den Kindern nicht irritieren, die zunehmend aufdringlicher und respektloser wurden. Es setzte Ohrfeigen und Fußtritte.
Volkhardt hatte sich mit seinen Schwarzen Banden unter die Bürger und Händler gemischt. Das Gedränge kam ihren diebischen Händen gelegen. Klein und flink wie sie waren, nutzten sie das Durcheinander aus. Bevor jemand einen Verlust bemerkte, waren sie längst in der Menge verschwunden.
Auch die Krähen waren durch den großen Zulauf angelockt worden. Sie ließen sich kreischend in den Ästen nieder und warteten. Kolk war natürlich auch unter ihnen. Seine Größe und sein spitzer Schnabel verschafften ihm einen guten Platz. Von hier aus hatte er alles im Blick.
Als der Kruzifixträger das Sandertor passierte, kam Unruhe in das ohnehin schon hektische Treiben. Alle drängten nach vorne, wo die Stadtknechte mühsam eine Gasse frei hielten. Faltermayer schickte daraufhin eine Schar Berittener voraus. Der massige Körper der Pferde und ihre Hufe lehrten die Übermütigen Respekt.
Die Eltern hatten sich längst in den gleichen Zug eingereiht, Hand in Hand beteten sie an der Seite ihrer Kinder. Ludwig sah das gerne, wusste er doch, dass mit jedem Kind und jedem Elternteil sein Einfluss in der Gemeinde wuchs. Auf dem Weg zum Sanderanger entstand daraus eine Idee, mit der er sich zunehmend anfreundete. Wenn der Zulauf an Kindern weiter anhielt, dann würde er die Bevormundung des Abts von Neumünster hinter sich lassen und seine eigene Kindergemeinde gründen.
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