Die Kinderhexe
gereizt. «Je früher du das verstehst, umso besser.»
Nicht nur Anna schreckte bei diesen unerwartet barschen Worten auf. Auch Grit und Kathi wunderten sich.
«Was willst du damit sagen?», erwiderte Anna.
«Dass du richtige Eltern nicht einfach kaufen und besitzen kannst wie einen Esel auf dem Markt.»
«Woher willst du das wissen, du neunmalkluge Kellerassel?»
«Weil ich einen Ziehvater hatte, dem nichts Besseres einfiel, als mich zum Betteln zu schicken.»
«Nicht alle Väter sind solche Halunken wie deiner. Ich weiß, dass es bessere gibt.»
«Ach ja?», giftete Ursula. «Weil du ja schon so viele Väter gehabt hast, du
Waisenkind
.»
Die Anspielung auf Annas sehnlichsten Wunsch, endlich zu einer Familie zu gehören, traf. Leider vergaß sie dabei, dass sie Anna körperlich unterlegen war.
«Du kleine, hinterhältige Ratte», brauste Anna auf. Mit dem Löffel in der Hand schlug sie auf Ursula ein.
Kathi ging dazwischen. «Hör auf damit!» Doch Anna war nicht zu bremsen. Sie zog und riss an Ursulas Haaren, die sich wehrte, so gut sie konnte.
Ludwig eilte herbei. «Was ist in euch gefahren?»
Er packte die beiden Streithähne und zog sie auseinander.
Kathi schaltete sich ein und spielte den Vorfall herunter.
«Verzeiht, ehrwürdiger Vater, es ist nur ein Streit um das Frühstücksmahl, nichts, worüber Ihr Euch Sorgen machen müsstet.»
Der Kampf ums Essen war eine vertraute Situation. Ludwig hatte keinen Grund, ihn zu hinterfragen.
«Es ist genug da», erwiderte er und befahl den beiden, sich in Frieden wieder zu setzen. «Zur Beruhigung betet ihr fünf Gegrüßet-seist-du-Maria und zehn Vaterunser. Danach macht ihr euch fertig. Heute ist Brandtag.»
In Reih und Glied, ordentlich gebürstet und gekleidet, standen die Kinder von Pfarrer Ludwig wenig später an der Klosterpforte.
«Es werden heute viele Menschen von nah und fern den Hinrichtungen beiwohnen», unterwies er sie, «und ihr wisst, warum. Sie wollen euch sehen. Daher erwarte ich, dass ihr euch anständig benehmt und keinen Anlass zur Klage gebt. Habt ihr verstanden?»
Alle nickten pflichtschuldig. Ludwig wies sodann Bruder Timotheus an, das Tor zu öffnen.
Kathi war nicht wohl zumute, denn sie wusste, über wen heute die Urteile gesprochen wurden. Ursula hielt ihre zitternde Hand. «Keine Sorge», sagte sie beruhigend, «es sollen über zwanzig Hexen und Zauberer gerichtet werden. Da fallen deine gar nicht auf.»
Das würden sie sehr wohl, dachte Kathi. Durch ihre Beschuldigung würden drei Menschen ihr Leben verlieren, die im eigentlichen Sinne unschuldig waren. Andererseits hatten sie sich an Babette versündigt. Das sollte sie besänftigen, doch wider Erwarten tat es das nicht.
«Wir beten den Rosenkranz für die Erlösung der verführten Seelen», gab Ludwig vor und ging los. Die Kinder folgten ihm, wie er es sich gewünscht hatte. Sie wollten bei den Bürgern einen guten Eindruck hinterlassen. «Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen …»
Die Kinder stimmten mit ein und traten in Zweierreihen vor das Tor. Dort wurden sie bereits von ihren Eltern erwartet, soweit sie noch welche hatten. Kinder und Eltern hatten sich einige Tage nicht mehr gesehen. Auch Helene war gekommen. Sie bemühte sich, ihre wahren Gefühle zu verbergen, aber Kathi kannte ihre Mutter. Sie ahnte, was in ihr vorging. Ein vorsichtiges Lächeln sollte sie ein wenig beruhigen.
Obwohl die Überschwemmung nicht bis zum oberen Teil des Marktplatzes reichte, hatte Dürr auf Bitten des Stadtrats die Vollstreckung der Urteile auf den Sanderanger verlegen lassen. Die erwartete Menschenmenge hätte das Chaos in den Straßen der Stadt nur verschlimmert.
Dennoch ließen es sich viele nicht nehmen, den Zug der Verdammten von der Kanzlei aus zum Sanderanger zu geleiten. Die Vorfreude auf den heutigen Brandtag war groß. Die ersten drei Hexenleute, die sich an Kindern vergangen hatten, sollten ihren Zorn zu spüren bekommen, bevor der Henker ihnen die Arbeit abnahm. Steine und Prügel lagen in vielen Händen.
Ludwig spürte die aufgeheizte Stimmung. Er wies die Kinder daher nicht an, sich wie gewohnt in die vorderste Reihe zu begeben, sondern im sicheren Rückraum zu bleiben. Er bat auch die Eltern, neben ihnen zu bleiben, damit kein Wirrkopf ihnen etwas antun konnte.
Helene beugte sich zu Kathi herab und nahm sie in den Arm.
«Wie geht es dir?», fragte sie, mit den Tränen kämpfend.
«Es geht mir gut», antwortete Kathi mit belegter Stimme. «Ihr
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