Die Kinderhexe
war nicht hinnehmbar.
«Schrei mich nicht so an!», keifte sie zurück. «Ich bin noch immer deine Mutter.»
Lag es an der Wärme des Kaminfeuers, an seiner aufgebrachten Stimmung oder an beidem, Dürr war nicht zu halten.
«Zum Teufel damit. Dir droht der Scheiterhaufen und mir der Kerker. Kannst du das nicht verstehen?»
Mutter Dürr reagierte mit Trotz. «Wieso solltest du nur den Kerker bekommen und ich den Scheiterhaufen?»
Dürr griff sich an den Kopf. Hatte dieses alte Weib tatsächlich den Verstand verloren?
Er sank auf einen Stuhl und zwang sich zur Ruhe, um die Frage zu wiederholen, nun in einem gemäßigten Ton.
«Mutter», begann er, sichtlich um Beherrschung bemüht, «sag mir bitte, was hat das Weibsbild gegen dich?»
Sie nickte zufrieden. «Na also, geht doch … Ich weiß beim besten Willen nicht, warum Hortensia das macht. Wir hatten immer das beste Auskommen miteinander. Meiner Meinung nach muss sie sich bei den Hexenleuten infiziert haben. Anders ist es nicht …»
«Das ist alles schon hinreichend bewiesen», fuhr Dürr dazwischen. «Ich will von dir wissen, wieso die Paulus gerade dich beschuldigt, eine Hexe zu sein. Sie hätte jedes andere Weibsbild wählen können.» Er stand auf und trat vor sie hin. «Ich bitte dich inständig, zu deinem und zu meinem Wohl: Sag mir, was hat sie gegen dich?»
Mutter Dürr blickte wütend an ihm vorbei. Sollte er alleine sehen, wie er das wieder hinbog. Es würde ihm eine Lehre sein, seine eigene Mutter wie eine Hilfsmagd zu behandeln.
«Das darf doch nicht wahr sein … Antworte, Mutter!»
Vor dem Fenster hatte sich der Himmel nun vollständig geöffnet. Regentropfen, so dick und schwer wie Kieselsteine, hämmerten auf das Nachbarsdach. Die Fledermaus rollte sich ganz in ihre Schwingen ein. An ein Weiterfliegen war vorerst nicht zu denken. Kein Hund, keine Katze oder Ratte und schon gar nicht ein Mensch setzte auch nur einen Schritt vor die Tür, in diese finstere, scheinbar niemals enden wollende Regenflut.
Von allen Teufeln, die in jener Nacht unterwegs waren und vor der Unbill der Natur kapitulieren mussten, hatte es nur das Rudel Wölfe vom Schalksberg nicht geschafft, rechtzeitig eine trockene Zuflucht zu finden. Sie schlichen mit klatschnassem Fell und geduckten Köpfen durch die Straßen. Auf ihrem Weg machten sie hin und wieder einen Satz zur Seite, wenn ein Ziegel vom Dach herunterrauschte und vor ihren Pfoten in tausend Stücke zersprang.
Drüben am Grünenbaum herrschte Aufruhr. Der plötzliche Regen, der binnen kurzem die Straßen unter Wasser gesetzt hatte, drang in Keller und Wohnungen ein. Säcke wurden geschleppt und eilig vor die Kellerlöcher und die Eingangstüren gelegt. Da und dort rief jemand um Hilfe.
Ein Schrei, den niemand hören konnte, kam aus dem Loch unter dem Grünenbaum.
Felicitas Dornbusch kniete mit gesenktem Haupt und gefalteten Händen in einer Ecke ihrer Zelle. Das Wasser, das über das kleine Kellerloch hereinströmte und den Boden bereits bis zu den Knöcheln bedeckte, kümmerte sie nicht. Wenn sie in der Sintflut sterben sollte, dann war das der Wunsch ihres Herrn Jesus Christus. Dieser Entscheidung würde sie sich fügen.
Die dreizehn Stationen ihres Leidenswegs, die am folgenden Tag auf sie warteten, war sie jedoch nicht gewillt hinzunehmen. Sie flehte um Gnade, allerdings nicht für sich, sondern für ihren Mann Christian. Sie wusste, dass er seit ihrer Festnahme dem Bischof die Tür einrannte, bisher ohne Erfolg. Und sie wusste auch, dass mit Prozessbeginn nicht nur Christian, sondern auch ihr Vater, ihre Mutter und ihre Geschwister in Verdacht gerieten.
Im benachbarten Bamberg hatte sich jüngst ein Fall dieser Art an einem hohen Beamten zugetragen, bei dem die ganze Familie ausgelöscht worden war. Felicitas war also gewarnt. Obwohl sie fest im Glauben war und gegen die Folter ankämpfen würde, wusste sie doch, dass ein Mensch am Ende seines Leidens alles gestand, damit die Schmerzen nur endlich aufhörten. Als Verräterin und Mörderin ihrer Familie wollte sie nicht vor ihren Schöpfer treten.
«O gnädigster Herr im Himmel, Herr über Leben und Tod, ich flehe dich an, lass mich kein falsches Zeugnis ablegen wider meine Liebsten. Gib mir Kraft, damit ich bis zum Ende den falschen Versprechen und der Pein widerstehe.»
Draußen auf der Straße ließen die Wölfe die Stadt hinter sich. Hier war es viel zu gefährlich für sie. Sie liefen im Schutz der Palisaden, bis sie zu einer Tür
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