Die Kinderhexe
traktierte.
Kathi wandte sich ab. Ihr Blick ging hinüber in die erste Reihe der Schaulustigen, wo noch ein paar Augenblicke zuvor Volkhardt gestanden war. Jetzt war er verschwunden. Nicht so der Junge mit den stechenden Augen. Noch immer starrte er sie an. Was war nur mit ihm los? Wusste er etwas über sie, das ihr gefährlich werden konnte? Seine böse Geste beunruhigte sie zunehmend.
«Hortensia Paulus», verkündete der Malefizschreiber nun, und ein Raunen ging durch die Menge. «Das schändlichste aller Weiber hat einundvierzig Kindern den Schwarzen Tod und andere Krankheiten angezaubert, achtmal Kirchenraub begangen, Vieh und Weiden verhext, sodass sie nicht mehr fruchtbar waren, dreiundzwanzigmal Ehebruch begangen, drei Häuser und zwei Scheunen angezündet, sechs unschuldige kleine Seelen im Kindbett erstickt, neun unheilige Ehen angerichtet …» Er fuhr noch eine ganze Weile fort.
Die Vorwürfe waren so entsetzlich, dass nicht nur Helene erschrak, sondern auch andere Frauen. Es war, als hätte Hortensia Paulus alles verraten, wofür eine Mutter und ein Eheweib standen. Der Malefizschreiber konnte die Aufzählung der ihr vorgeworfenen Vergehen nicht in Ruhe verkünden, immer wieder und immer lauter forderten die Frauen, das elende Hexenweib auf der Stelle im Main zu ersäufen, wie man es seit eh und je mit derartigen Verbrecherinnen tat.
Steine flogen, und erboste Frauen drangen gegen die Absperrung. Die Stadtknechte hatten Mühe, die Paulus zu schützen. Einer Frau gelang es, die Absperrung zu überwinden, ihr folgte eine zweite und eine dritte. Sie rannten auf Hortensia zu und warfen sie zu Boden. Tritte und Schläge prasselten auf sie ein.
«Bringt das Hexenweib um», tönte es aus der Menge.
Dürr sprang von seinem Stuhl auf und befahl den Stadtknechten einzugreifen, doch die waren damit beschäftigt, die Absperrungen zu sichern.
«Lasst sie», befahl Faltermayer. «Eine weniger, um die wir uns kümmern müssen.»
Die Menge war außer sich vor Mordlust. Es war besser, sie gewähren zu lassen und sie nicht weiter zu reizen. Dürr musste das akzeptieren. Er ging wieder auf seinen Platz zurück.
Doch jemand anders war nicht gewillt, klein beizugeben.
«Egal, was passiert», sagte Helene, «du bleibst hier. Hast du gehört?» Dann machte sie Anstalten, die Absperrung zu überwinden.
Kathi meinte ihren Augen nicht zu trauen. «Mutter! Wo wollt Ihr hin?»
«Ich kann nicht einfach danebenstehen und nichts tun, wenn sich eine Freundin ins Unglück stürzt.»
«Eine Freundin? Wen meint Ihr?»
«Warte hier.»
Helene lief auf die drei Frauen zu, die ungehindert auf Hortensia einprügelten. Da erkannte Kathi eine von ihnen. Es war eine Nachbarin, eine junge Mutter, die oft mit Helene in die Kirche ging und ihren Glauben über alles stellte. Helene forderte sie auf mitzukommen, sie würde mit der Tat ihr Seelenheil auf ewig beschädigen. Doch die Frau hörte nicht. Sie schlug weiter auf Hortensia ein. Von irgendwoher kam Blut. Kathi sah eine Haarspange aus Metall in einer Hand aufblitzen. Ein ums andere Mal stach die Spitze zu.
Die Menge jubilierte. «Bringt sie um! Bringt sie um!»
In dem Durcheinander löste sich ein Mädchen von der Hand ihres Vaters und schlüpfte den Stadtknechten durch die Beine. Es rannte weinend auf die Frauen zu und warf sich schützend auf Hortensia, ihre Tante.
«Muhme, Muhme.»
Bei diesen flehenden, verzweifelten Worten aus einem Kindermund hielten die Frauen endlich inne – blutüberströmt, mit Mordgier in den Augen.
«Was habt ihr mit meiner Muhme gemacht?», heulte die Kleine. Sie rüttelte den leblosen Körper und wiederholte stets das Gleiche. «Muhme, so sag doch was …»
Helene nahm sie in die Arme. «Komm mit, mein Kind. Deine Muhme ist jetzt an einem besseren Ort.»
«Ich will meine Muhme …»
Endlich kam auch der Vater, unsicher und verängstigt, ob er das gleiche Schicksal wie seine Schwägerin erleiden würde.
Helene drückte ihm das Kind in die Hand. «Los, nimm es und verschwinde. Schnell.»
Die überhitzte Stimmung war mit dem Auftreten des Kindes verebbt. Betroffenheit machte sich breit und ergriff auch die drei Frauen, die sich von ihrem Zorn hatten hinreißen lassen. Nun hatten sie mit eigener Hand Unheil über ein Kind gebracht.
Kathi und Ursula starrten sie entsetzt an.
«Seht ihr, was ihr angerichtet habt?», sagte Helene vorwurfsvoll zu ihnen. «Damit muss jetzt Schluss sein.»
Sie nahm Kathi an die Hand und zerrte sie mit
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