Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)
deine Mama?«
Der Junge nickt.
»Und wie heißt deine Mama?«
Der Junge wirft ihm einen fragenden Blick zu.
»Er weiß ihren Namen nicht«, sagt er. »Er hatte einen Brief dabei, als er an Bord des Schiffes kam, aber der ging verloren.«
»Der Strick ist gerissen«, sagt der Junge.
»Der Brief war in einem Beutel«, erklärt er, »der ihm an einem Strick um den Hals hing. Der Strick ist gerissen und der Brief ging verloren. Man suchte auf dem ganzen Schiff nach ihm. So haben David und ich uns getroffen. Aber der Brief wurde nie gefunden.«
»Er ist ins Meer gefallen«, sagt der Junge. »Die Fische haben ihn gefressen.«
Ana runzelt die Stirn. »Wenn du dich nicht an den Namen deiner Mutter erinnerst, kannst du uns dann sagen, wie sie aussieht? Kannst du ein Bild von ihr zeichnen?«
Der Junge schüttelt den Kopf.
»Deine Mama ist also verschwunden und du weißt nicht, wo du nach ihr suchen sollst.« Ana macht eine nachdenkliche Pause. »Wie würde dir dann gefallen, wenn dein
padrino
sich nach einer anderen Mama für dich umschauen würde, eine, die dich lieben und sich um dich kümmern könnte?«
»Was ist ein
padrino
?«, fragt der Junge.
»Sie stecken mich immerzu in Rollen«, unterbricht er. »Ich bin nicht Davids Vater, und auch nicht sein
padrino
. Ich helfe ihm einfach, seine Mutter wiederzufinden.«
Sie ignoriert die Zurechtweisung. »Wenn Sie eine Frau für sich fänden«, sagt sie, »könnte sie ihm Mutter sein.«
Er lacht auf. »Welche Frau möchte denn einen Mann wie mich heiraten, einen Fremden, der noch nicht einmal Sachen zum Wechseln besitzt?« Er wartet darauf, dass die junge Frau ihm widerspricht, doch vergeblich. »Außerdem, selbst wenn ich eine Frau fände, wer sagt denn, dass sie ein, na ja, Pflegekind wollen würde? Oder dass unser junger Freund hier sie akzeptieren würde?«
»Man kann nie wissen. Kinder sind anpassungsfähig.«
»Das behaupten Sie ständig.« In ihm flammt Ärger auf. Was weiß diese reichlich selbstsichere Frau von Kindern? Und was gibt ihr das Recht, ihn zu belehren? Da fügen sich plötzlich die Einzelteile zu einem Bild zusammen. Die unvorteilhaften Kleider, die verblüffende Strenge, das Gerede von Patenonkeln [1] – »Sind Sie vielleicht zufällig eine Nonne, Ana?«, fragt er.
Sie lächelt. »Wie kommen Sie darauf?«
»Sind Sie eine von den Nonnen, die das Kloster verlassen haben, um in der Welt zu leben? Um Aufgaben zu übernehmen, die sonst keiner will – in Gefängnissen, Waisenheimen und Anstalten? In Aufnahmezentren für Flüchtlinge?«
»Das ist lächerlich. Natürlich nicht. Das Zentrum ist kein Gefängnis. Es ist keine Wohltätigkeitseinrichtung. Es gehört zur Sozialhilfe.«
»Trotzdem, wie kann eine den unaufhörlichen Strom von Leuten wie uns, hilflos und unwissend und bedürftig, ertragen, ohne irgendeinen Glauben, der ihr Stärke verleiht?«
»Glauben? Glauben hat damit nichts zu tun. Glauben bedeutet, an das glauben, was man tut, auch wenn es keine sichtbaren Früchte trägt. So ist das Zentrum nicht. Die Menschen kommen und brauchen Hilfe und wir helfen ihnen. Wir helfen ihnen und ihr Leben verbessert sich. Davon ist nichts unsichtbar. Nichts davon erfordert blinden Glauben. Wir tun unsere Arbeit, und alles wendet sich zum Guten. So einfach ist das.«
»Nichts ist unsichtbar?«
»Nichts ist unsichtbar. Vor zwei Wochen waren Sie in Belstar. Vergangene Woche haben wir für Sie eine Arbeit im Hafen gefunden. Heute machen Sie Picknick im Park. Was ist daran unsichtbar? Es bedeutet Fortschritt, sichtbaren Fortschritt. Jedenfalls, um auf Ihre Frage zurückzukommen, nein, ich bin keine Nonne.«
»Warum predigen Sie uns dann Askese? Sie fordern uns auf, unseren Hunger zu unterdrücken, den Hund in uns auszuhungern. Warum? Was ist schlecht am Hunger? Wozu haben wir unseren Appetit, wenn nicht, um uns zu sagen, was wir brauchen? Wenn wir keinen Appetit, keine Begierden hätten, wie würden wir leben?«
Das scheint ihm eine gute Frage, eine ernsthafte Frage, eine, welche die bestausgebildete Nonne beunruhigen dürfte.
Ihre Antwort kommt mühelos, so mühelos und so leise gesprochen, als solle sie das Kind nicht hören, dass er sie einen Moment lang nicht versteht: »Und wohin führen Sie, in Ihrem Fall, Ihre Begierden?«
»Meine Begierden? Darf ich offen sein?«
»Sie dürfen.«
»Ohne Ihre Gastfreundschaft geringzuschätzen, führen sie mich zu mehr als Kräckern und Bohnenpaste. Sie führen mich zum Beispiel zu Beefsteak mit
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