Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)
Kartoffelbrei und Bratensoße. Und ich bin sicher, dieser junge Mann« – er packt den Jungen beim Arm – »fühlt dasselbe. Habe ich recht?«
Der Junge nickt eifrig.
»Beefsteak, aus dem der Fleischsaft tropft«, fährt er fort. »Wissen Sie, was mich an diesem Land am meisten verwundert?« Ein rücksichtsloser Ton schleicht sich in seine Stimme; es wäre klüger aufzuhören, doch er tut es nicht. »Dass es so blutleer ist. Jeder, den ich treffe, ist so anständig, so freundlich, so wohlmeinend. Niemand flucht oder wird zornig. Niemand betrinkt sich. Niemand erhebt auch nur die Stimme. Ihr lebt von Brot und Wasser und Bohnenpaste und behauptet, satt zu sein. Wie kann das sein, aus menschlicher Sicht? Lügt ihr, belügt sogar euch selbst?«
Ihre Knie umschlingend starrt ihn die junge Frau wortlos an und wartet das Ende der Tirade ab.
»Wir haben Hunger, dieses Kind und ich.« Kraftvoll zieht er den Jungen zu sich. »Wir haben die ganze Zeit Hunger. Sie sagen mir, unser Hunger sei etwas Befremdliches, das wir mitgebracht haben und das nicht hierher gehört, dass wir ihn aushungern müssen. Wenn wir unseren Hunger vernichtet haben, haben wir bewiesen, dass wir uns anpassen können, sagen Sie, und wir können dann für immer glücklich sein. Aber ich will den Hungerhund nicht aushungern! Ich will ihn füttern! Du nicht auch?« Er schüttelt den Jungen. Der Junge taucht unter seine Achselhöhle ab, lächelt und nickt. »Du nicht auch, mein Junge?«
Schweigen breitet sich aus.
»Sie sind richtig zornig«, sagt Ana.
»Ich bin nicht zornig, ich habe Hunger! Sagen Sie mir: Was ist falsch daran, einen gewöhnlichen Appetit zu befriedigen? Warum müssen unsere gewöhnlichen Impulse und Hungergefühle und Begierden unterdrückt werden?«
»Wollen Sie wirklich vor dem Kind so weitermachen?«
»Ich schäme mich nicht für das, was ich sage. Es ist nichts dabei, vor dem ein Kind geschützt werden müsste. Wenn ein Kind im Freien auf der bloßen Erde schlafen kann, dann kann es gewiss auch einen robusten Gedankenaustausch zwischen Erwachsenen hören.«
»Nun gut, ich werde Ihnen mit robusten Gedanken antworten. Was Sie von mir wollen, ist etwas, was ich nicht tue.«
Er starrt sie verständnislos an. »Was ich von Ihnen will?«
»Ja. Sie wollen, dass ich mich von Ihnen umarmen lasse. Wir wissen beide, was das bedeuetet:
umarmen
. Und ich erlaube es nicht.«
»Ich habe nichts davon gesagt, dass ich Sie umarmen will. Und was ist denn übrigens an Umarmungen Schlimmes, wenn Sie keine Nonne sind?«
»Begierden abzuweisen hat nichts damit zu tun, ob man Nonne ist oder nicht. Ich tue es einfach nicht. Ich erlaube es nicht. Ich mag es nicht. Ich habe kein Verlangen danach. Ich habe kein Verlangen nach der Sache selbst und ich möchte nicht sehen, was es bei Menschen anrichtet. Was es bei einem Mann anrichtet.«
»Was wollen Sie damit sagen,
was es bei einem Mann anrichtet
?«
Sie sieht das Kind bedeutungsvoll an. »Möchten Sie wirklich, dass ich weiterspreche?«
»Sprechen Sie weiter. Es ist nie zu früh, etwas über das Leben zu lernen.«
»Also gut. Sie finden mich attraktiv, das sehe ich. Vielleicht finden Sie mich sogar schön. Und weil Sie mich schön finden, ist es Ihr Verlangen, Ihr Impuls, mich zu umarmen. Deute ich die Zeichen richtig, die Zeichen, die Sie mir geben? Wenn Sie mich nicht schön finden würden, würden Sie dagegen keinen solchen Impuls spüren.«
Er ist stumm.
»Je schöner Sie mich finden, desto dringender wird Ihr Verlangen. So funktionieren diese Regungen, die Sie sich zum Leitstern nehmen, dem Sie blind folgen. Überlegen Sie nun. Bitte, sagen Sie mir: Was hat Schönheit mit der Umarmung zu tun, in die ich Ihrem Wunsch gemäß einwilligen soll? Was ist die Verbindung zwischen dem einen und dem anderen? Erklären Sie es.«
Er ist stumm, mehr als stumm. Er ist sprachlos.
»Also bitte. Sie sagten, es mache Ihnen nichts, wenn es Ihr Patensohn mitanhören würde. Sie meinten, er solle etwas über das Leben lernen.«
»Zwischen einem Mann und einer Frau«, sagt er schließlich, »entsteht manchmal spontan eine natürliche Anziehungskraft, unvorhergesehen, unüberlegt. Die beiden finden einander attraktiv oder sogar schön, um das andere Wort zu benutzen. Die Frau meist schöner als der Mann. Warum das eine aus dem anderen folgen sollte, die Anziehungskraft und das Verlangen nach Umarmung aus der Schönheit, ist ein Geheimnis, das ich nicht erklären kann; ich kann nur sagen, dass mein
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