Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)
Bestimmten. Ich erkunde nur Möglichkeiten.«
»Erkunden? Ist es für dich nicht an der Zeit, sesshaft zu werden? Du bist kein junger Mann mehr.«
Er schweigt.
»Du fragst, wie ich es aufnehmen würde. Möchtest du eine kurze Antwort oder eine ausführliche Antwort?«
»Eine ausführliche Antwort. Die ausführlichste.«
»Sehr gut. Unsere Freundschaft ist gut für die Jungen gewesen, darüber sind wir uns einig. Sie sind enge Freunde geworden. Sie betrachten uns als Schutzpersonen oder vielleicht sogar als eine einzige schützende Präsenz. Es wäre also nicht gut für sie, wenn unsere Freundschaft beendet werden würde. Und ich sehe keinen Grund dafür, nur weil du dich mit irgendeiner hypothetischen anderen Frau triffst.
Ich nehme jedoch an, dass du mit dieser Frau dieselbe Art von Experiment durchführen willst, das du mit mir durchgeführt hast, und dass du im Verlauf des Experiments die Verbindung zu Fidel und mir verlieren wirst.
Deshalb will ich in Worte fassen, was du selbst, wie ich gehofft habe, hättest begreifen können. Du möchtest diese andere Frau treffen, weil ich dir nicht gebe, was du zu brauchen meinst, nämlich stürmische Leidenschaft. Freundschaft allein ist für dich nicht gut genug. Ohne von stürmischer Leidenschaft begleitet zu werden, ist sie irgendwie unzureichend.
Das klingt mir nach einer alten Denkweise. Nach der alten Denkweise spielt keine Rolle, wieviel man haben mag, es fehlt immer etwas. Du hast dich entschieden, diesem
Etwas-mehr
, das fehlt, den Namen Leidenschaft zu geben. Aber ich wette darauf, wenn dir morgen alle Leidenschaft, die du dir gewünscht hast, geboten würde – Leidenschaft im Überfluss –, würdest du prompt etwas Neues finden, das fehlt, das nicht vorhanden ist. Dieses endlose Unbefriedigtsein, dieses Sehnen nach dem Etwas-mehr, das fehlt, ist eine Denkweise, die wir überwunden haben, meiner Meinung nach.
Nichts fehlt.
Das Nichts, das deiner Meinung nach fehlt, ist eine Illusion. Du lebst mit einer Illusion.
Siehst du, du hast eine ausführliche Antwort gewollt und ich habe dir eine gegeben. Reicht das oder möchtest du noch mehr hören?«
Es ist ein warmer Tag, dieser Tag der ausführlichen Antwort. Leise spielt das Radio; sie liegen auf dem Bett in ihrer Wohnung, voll bekleidet.
»Ich für meinen Teil –«, fängt er an; doch Elena unterbricht ihn. »Pst«, sagt sie. »Kein Reden mehr, zumindest heute nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil wir uns als Nächstes zanken würden, und das möchte ich nicht.«
Sie verstummen also und liegen schweigend nebeneinander, lauschen jetzt den Möwen, die bei ihren Rundflügen über dem Hof kreischen, dann den Jungen, die beim gemeinsamen Spiel lachen, dann der Musik im Radio, deren beharrlicher, gleichmäßiger Wohlklang ihn einst besänftigte, ihn aber heute einfach irritiert.
Was er,
für seinen Teil
, sagen möchte, ist, dass das Leben hier für seinen Geschmack zu ruhig ist, dass ihm ein Auf und Ab, Drama und Spannung fehlen – dass es eigentlich der Musik im Radio zu sehr gleicht.
Anodina
: ist das ein spanisches Wort?
Ihm fällt ein, dass er Álvaro einmal gefragt hat, warum es nie Nachrichten im Radio gibt. »Nachrichten wovon?«, erkundigte sich Álvaro. »Nachrichten davon, was in der Welt geschieht«, erwiderte er. »Oh«, meinte Álvaro, »geschieht etwas?« Wie früher schon war er geneigt, Ironie herauszuhören. Doch nein, da war keine.
Álvaro hat keine Ironie in seinem Repertoire. Elena ebenfalls nicht. Elena ist eine intelligente Frau, aber sie sieht keine Zwiespältigkeit in der Welt, keinen Unterschied zwischen dem Anschein der Dinge und dem Sein. Eine intelligente Frau und auch eine bewunderungswürdige Frau, die aus den dürftigsten Materialien – Näharbeiten, Musikstunden, Hausarbeiten – ein neues Leben zusammengefügt hat, ein Leben, von dem sie behauptet – zu Recht? –, das nichts darin fehlt. Das Gleiche gilt für Álvaro und die Schauerleute: Er kann bei ihnen keine geheimen Sehnsüchte entdecken, kein Verlangen nach einer anderen Lebensweise. Nur er ist die Ausnahme, der Unzufriedene, der Außenseiter. Was stimmt mit ihm nicht? Ist es, wie Elena sagt, nur die alte Weise zu denken und zu fühlen, die in ihm noch nicht gestorben ist, sondern in den letzten Zügen zuckt und zittert?
Die Dinge haben hier nicht ihr wahres Gewicht – das wollte er letztlich Elena sagen. Die Musik, die wir hören, hat kein Gewicht. Unseren Liebesbezeigungen mangelt es an Gewicht. Der Nahrung,
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