Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)
die wir essen, unserer traurigen Brotdiät, fehlt Substanz – fehlt das Gehaltvolle von tierischem Fleisch, mit all dem Ernst des Blutvergießens und des Opferns dahinter. Sogar unseren Worten fehlt es an Gewicht, diese spanischen Wörter, die uns nicht von Herzen kommen.
Die Musik kommt anmutig zum Schluss. Er steht auf. »Ich muss gehen«, sagt er. »Weißt du noch, wie du mir gestern erzählt hast, dass du nicht an Erinnerungen leiden würdest?«
»Habe ich das gesagt?«
»Ja, das hast du. Als wir beim Fußballspiel im Park zugeschaut haben. Nun, ich bin nicht wie du. Ich leide an Erinnerungen, oder den Schatten von Erinnerungen. Ich weiß, wir sollen alle durch die Überfahrt hierher reingewaschen sein, und es stimmt, ich kann nicht auf ein großes Repertoire zurückgreifen. Aber die Schatten bleiben trotzdem zurück. Daran leide ich. Nur dass ich das Wort
leiden
nicht benutze. Ich halte sie fest, diese Schatten.«
»Das ist gut«, sagt Elena. »Auf der Welt muss es alle möglichen Menschen geben.«
Fidel und David kommen ins Zimmer gestürzt, erhitzt, schwitzend, voller Leben. »Sind Kekse da?«, will Fidel wissen.
»In der Büchse im Schrank«, sagt Elena.
Die beiden Jungen verschwinden in die Küche. »Geht’s euch gut?«, ruft Elena.
»Mm«, sagt Fidel.
»Das ist schön«, sagt Elena.
Neun
» W ie läuft der Musikunterricht?«, fragt er den Jungen. »Macht er dir Spaß?«
»Mm. Weißt du was? Wenn Fidel groß ist, kauft er sich eine klitzekleine Geige« – er zeigt, wie klein die Geige sein wird: nur zwei Handbreit – »und er wird ein Clownskostüm anziehen und Geige im Zirkus spielen. Können wir in den Zirkus gehen?«
»Wenn der Zirkus das nächste Mal in die Stadt kommt, können wir hingehen, wir alle. Wir können Álvaro einladen, und vielleicht auch Eugenio.«
Der Junge schmollt. »Ich möchte nicht, dass Eugenio mitkommt. Er sagt solche Dinge über mich.«
»Er hat nur einmal etwas gesagt, dass du den Teufel im Leib hättest, und das war nur so eine Redensart. Er meinte, du hättest einen Funken in dir, der dich gut Schach spielen lässt. Einen Kobold.«
»Ich mag ihn nicht.«
»Gut, dann laden wir Eugenio nicht ein. Was lernst du in deinem Musikunterricht außer Tonleitern?«
»Singen. Möchtest du hören, wie ich singe?«
»Sehr gern. Ich wusste nicht, dass Elena auch Singen unterrichtet. Sie steckt voller Überraschungen.«
Sie sitzen im Bus, der aus der Stadt heraus auf das Land fährt. Obwohl noch mehrere andere Fahrgäste da sind, schämt sich der Junge nicht zu singen. Mit seiner klaren jungen Stimme stimmt er einen Sprechgesang an:
Wer reitet so spät durch Dampf und Wind?
Er ist der Vater mit seinem Kind;
Er halt den Knaben in dem Arm,
Er füttert ihn Zucker, er küsst ihm warm.
[2]
»Das ist alles. Es ist Englisch. Kann ich Englisch lernen? Ich will nicht mehr Spanisch sprechen. Ich hasse Spanisch.«
»Du sprichst sehr gut Spanisch. Du singst auch sehr schön. Vielleicht wirst du Sänger, wenn du groß bist.«
»Nein. Ich werde Zauberer in einem Zirkus. Was heißt das:
Wer reitet so
?«
»Das weiß ich nicht. Ich spreche kein Englisch.«
»Kann ich in die Schule gehen?«
»Darauf musst du noch eine Weile warten, bis zu deinem nächsten Geburtstag. Dann kannst du zusammen mit Fidel in die Schule gehen.«
Sie steigen an der Haltestelle aus, die mit
Endhaltestelle
bezeichnet ist, von wo der Bus zurückfährt. Die Landkarte, die er an der Bushaltestelle mitgenommen hat, zeigt Pfade und Fußwege in die Berge hinauf; sein Plan ist, einem gewundenen Pfad zu folgen, der zu einem See führt, neben dem auf der Karte ein Sternregen anzeigt, dass es ein schönes Fleckchen ist.
Sie steigen als letzte Fahrgäste aus und sind die einzigen Wanderer auf dem Fußweg. Die Landschaft, durch die sie kommen, ist leer. Obwohl sie üppig und fruchtbar wirkt, gibt es kein Anzeichen menschlicher Siedlungen.
»Ist es nicht friedlich hier auf dem Land!«, bemerkt er dem Jungen gegenüber, obwohl die Leere ihm in Wahrheit eher trostlos als friedlich vorkommt. Es wäre besser, wenn er auf Tiere hinweisen könnte, Kühe oder Schafe oder Schweine, die ihren tierischen Geschäften nachgehen. Sogar Kaninchen würden genügen.
Ab und zu sehen sie Vögel im Flug, aber zu weit weg und zu hoch am Himmel, als dass er sicher sagen könnte, was es für welche sind.
»Ich bin müde«, verkündet der Junge.
Er schaut auf der Karte nach. Sie sind auf halbem Weg zum See, schätzt er. »Ich trage
Weitere Kostenlose Bücher