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Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Titel: Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.M. Coetzee
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dich eine Weile«, sagt er, »bis deine Kräfte zurückkommen.« Er setzt sich den Jungen auf die Schultern. »Melde, wenn du einen See siehst. Das ist der Ort, wo das Wasser herkommt, das wir trinken. Melde, wenn du ihn siehst. Melde, wenn du irgendwelches Wasser siehst. Oder wenn du irgendwelche Landbevölkerung siehst.«
    Sie gehen weiter. Aber entweder hat er die Karte falsch gelesen oder die Karte selbst ist fehlerhaft, denn der Pfad endet, nachdem er steil angestiegen und dann genauso steil abgefallen ist, plötzlich und ohne Vorwarnung an einer Mauer und einem rostigen, mit Efeu überwachsenen Tor. Neben dem Tor ist ein verwittertes gemaltes Schild. Er schiebt den Efeu beiseite.
»La Residencia«
, liest er.
    »Was ist eine Residencia?«, fragt der Junge.
    »Eine Residencia ist ein Haus, ein großes Haus. Aber diese spezielle Residencia ist vielleicht nur eine Ruine.«
    »Können wir mal gucken?«
    Sie probieren das Tor aus, aber es bewegt sich nicht. Als sie gerade zurückgehen wollen, kommt, getragen vom Wind, leises Gelächter zu ihnen. Sie folgen dem Laut, bahnen sich den Weg durch dichtes Gestrüpp und kommen an einen Punkt, wo die Mauer einem hohen Maschendrahtzaun weicht. Auf der anderen Seite des Zauns befindet sich ein Tennisplatz, und auf dem Platz sind drei Spieler, zwei Männer und eine Frau, weiß gekleidet, die Männer in Hemden und langen Hosen, die Frau in Rock und Bluse, deren Kragen aufgestellt ist, und einer Mütze mit grünem Schild.
    Die Männer sind groß, breitschultrig, schmalhüftig; sie sehen aus wie Brüder, vielleicht sogar Zwillingsbrüder. Die Frau spielt im Team mit einem von ihnen gegen den anderen. Sie sind alle geübte Spieler, das sieht er sofort, geschickt und flink zu Fuß. Der einzelne Mann ist besonders gut und besteht gegen sie mit Leichtigkeit.
    »Was machen sie?«, flüstert der Junge.
    »Das ist ein Spiel«, antwortet er leise. »Es heißt Tennis. Man versucht, den Ball am Gegenspieler vorbei zu schlagen. Wie das Torschießen beim Fußball.«
    Der Ball donnert in den Zaun. Als sie sich umdreht, um ihn zu holen, sieht die Frau sie. »Hallo«, sagt sie und lächelt dem Jungen zu.
    In ihm bewegt sich etwas. Wer ist diese Frau? Ihr Lächeln, ihre Stimme, ihre Haltung – an ihr ist etwas merkwürdig Vertrautes.
    »Guten Morgen«, sagt er mit trockener Kehle.
    »Komm, mach schnell!«, ruft ihr Partner. »Satzball!«
    Es werden keine weiteren Worte gewechselt. Und als ihr Partner kurz darauf kommt, um einen Ball zu holen, bedenkt er sie beide mit einem finsteren Blick, als wolle er klarmachen, dass sie nicht willkommen sind, nicht einmal als Zuschauer.
    »Ich habe Durst«, flüstert der Junge.
    Er reicht ihm die mitgebrachte Wasserflasche.
    »Haben wir nichts anderes?«
    »Was willst du denn – Nektar?«, zischt er als Antwort, bedauert aber sofort seine Gereiztheit. Aus seinem Rucksack holt er eine Apfelsine und macht ein Loch in die Schale. Der Junge saugt gierig.
    »Ist das besser?«, fragt er.
    Der Junge nickt. »Gehen wir zur Residencia?«
    »Das muss die Residencia sein. Der Tennisplatz muss zu ihr gehören.«
    »Können wir reingehen?«
    »Wir können es versuchen.«
    Sie lassen die Tennisspieler zurück und arbeiten sich durchs Unterholz, immer an der Mauer entlang, bis sie auf einer unbefestigten Straße herauskommen, die zu einem hohen doppelten Eisentor führt. Hinter den Stäben, durch Bäume hindurch, erblicken sie ein imposantes Gebäude aus dunklem Stein.
    Die Tore sind zu, aber nicht verschlossen. Sie schlüpfen hindurch und waten knöcheltief in welkem Laub eine Auffahrt hoch. Ein Schild mit einem Pfeil weist auf ein Bogenportal, das in einen Hof führt, in dessen Mitte eine Marmorstatue steht, eine überlebensgroße Figur einer Frau oder vielleicht eines Engels in fließendem Gewand, zum Horizont blickend und eine brennende Fackel in die Höhe reckend.
    »Guten Tag«, sagt eine Stimme. »Kann ich Ihnen behilflich sein?«
    Der Sprecher ist ein älterer Mann, das Gesicht faltig, der Rücken gebeugt. Er trägt eine verblichene schwarze Uniform; er ist aus einem kleinen Büro oder Pförtnerhaus im Eingang aufgetaucht.
    »Ja. Wir sind gerade aus der Stadt gekommen. Ich frage mich, ob wir vielleicht mit einer der Bewohnerinnen sprechen könnten, einer Dame, die auf dem Platz hinterm Haus Tennis spielt.«
    »Und würde die betreffende Dame denn mit Ihnen sprechen wollen, mein Herr?«
    »Ich glaube ja. Es gibt eine wichtige Angelegenheit, die ich mit ihr

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