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Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Titel: Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.M. Coetzee
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sieht ihm gerade in die Augen. »Niemand sollte aufgeben müssen, was ihm wichtig ist«, sagt sie.
    Die beiden Jungen kehren zurück, keuchend vom Rennen, vor Gesundheit strotzend. »Haben wir was zu trinken?«, fragt Fidel.
    Erst als sie auf der Heimfahrt im Bus sind, hat er wieder eine Gelegenheit, sich mit Elena zu unterhalten.
    »Ich weiß nicht, wie das bei dir ist«, sagt er, »aber die Vergangenheit ist nicht tot in mir. Einzelheiten sind vielleicht verblasst, aber das Gefühl, wie das Leben früher war, ist noch ziemlich lebhaft. Männer und Frauen, zum Beispiel: Du sagst, du seist über diese Art des Denkens hinaus; ich aber nicht. Ich fühle immer noch, dass ich ein Mann bin und dass du eine Frau bist.«
    »Ich gebe dir recht. Männer und Frauen sind verschieden. Sie haben unterschiedliche Rollen zu spielen.«
    Die beiden Jungen, auf dem Sitz vor ihnen, flüstern miteinander und kichern. Er nimmt Elenas Hand. Sie entzieht sie ihm nicht. Aber durch die unmissverständliche Sprache des Körpers gibt ihre Hand eine Antwort. Sie stirbt in seinem Griff wie ein Fisch auf dem Trockenen.
    »Darf ich fragen«, sagt er, »bist du darüber hinaus, etwas für einen Mann zu empfinden?«
    »Es ist nicht so, dass ich nichts empfinde«, antwortet sie langsam und gewissenhaft. »Im Gegenteil, ich empfinde Wohlwollen, viel Wohlwollen. Sowohl dir als auch deinem Sohn gegenüber. Warme Gefühle und Wohlwollen.«
    »Mit Wohlwollen meinst du, du wünschst uns alles Gute? Ich bemühe mich, die Idee zu begreifen. Du hast gütige Gefühle für uns?«
    »Ja, ganz genau.«
    »Güte, muss ich dir sagen, ist etwas, was wir hier ständig erleben. Jeder wünscht uns alles Gute, jeder ist bereit, uns freundlich zu behandeln. Wir werden regelrecht auf einer Wolke des Wohlwollens getragen. Aber es bleibt alles ein wenig abstrakt. Kann Wohlwollen allein unsere Bedürfnisse befriedigen? Liegt es nicht in unserer Natur, etwas Greifbareres zu begehren?«
    Mit voller Absicht entzieht ihm Elena ihre Hand. »Du magst dir ja mehr wünschen als Wohlwollen; aber ist das, was du dir wünschst besser als Wohlwollen? Das solltest du dich fragen.« Sie macht eine Pause. »Du sprichst von David immer als ›dem Jungen‹. Warum benutzt du nicht seinen Namen?«
    »David ist der Name, den sie ihm im Lager gegeben haben. Er mag ihn nicht, er sagt, es sei nicht sein richtiger Name. Ich versuche, ihn nicht zu benutzen, wenn ich nicht muss.«
    »Weißt du, es ist ganz einfach, einen Namen zu ändern. Man geht zum Standesamt und füllt ein Namenänderungsformular aus. Das ist alles. Keine Fragen.« Sie beugt sich nach vorn. »Und was flüstert ihr zwei denn so?«, fragt sie die Jungen.
    Ihr Sohn lächelt sie an, legt seine Finger an die Lippen, tut so, als sei das, was sie beide beschäftigt, geheim.
    Der Bus setzt sie vor der Siedlung ab. »Ich hätte euch gern zu einer Tasse Tee eingeladen«, sagt Elena, »aber leider ist es Zeit für Fidelitos Bad und Abendbrot.«
    »Ich verstehe«, sagt er. »Auf Wiedersehen, Fidel. Vielen Dank für den Spaziergang. Es war eine schöne Zeit mit euch.«
    »Du scheinst dich mit Fidel gut zu verstehen«, bemerkt er zum Jungen, als sie dann allein sind.
    »Er ist mein bester Freund.«
    »Fidel empfindet also Wohlwollen dir gegenüber, wie?«
    »Jede Menge Wohlwollen.«
    »Und du? Empfindest du auch Wohlwollen?«
    Der Junge nickt eifrig.
    »Und noch etwas anderes?«
    Der Junge schaut ihn verwundert an. »Nein.«
    Da hat er es also, aus dem Mund der jungen Kinder und Säuglinge. Aus Wohlwollen entsteht Freundschaft und Glück, ergeben sich gesellige Picknicks im Park oder gesellige Nachmittage mit Spaziergängen im Wald. Während aus Liebe, oder zumindest aus Verlangen in seinen dringlicheren Erscheinungsformen, Frustration und Zweifel und Kummer entstehen. So einfach ist das.
    Und was hat er denn mit Elena vor, einer Frau, die er kaum kennt, der Mutter vom neuen Freund des Kindes? Hofft er, sie zu verführen, weil in Erinnerungen, die ihm noch nicht ganz verlorengegangen sind, das einander Verführen etwas ist, das Männer und Frauen tun? Besteht er auf dem Vorrang des Persönlichen (Begierde, Liebe) vor dem Universellen (Wohlwollen, Güte)? Und warum stellt er sich ständig Fragen, statt einfach zu leben, wie alle anderen? Gehört das alles zu einem viel zu zögerlichen Übergang vom Alten und Bequemen (dem Persönlichen) zum Neuen und Beunruhigenden (dem Universellen)? Ist die endlose Selbstbefragung nichts als eine

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