Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)
sich an den Teichrand und benutzt ein Schilfrohr beim Versuch, sie anzulocken.
»Ich will genauer sein«, sagt er und spricht nun leise und schnell. »Der Junge hat keine Mutter. Seit wir vom Schiff heruntergekommen sind, haben wir die ganze Zeit nach ihr gesucht. Würden Sie in Betracht ziehen, ihn zu sich zu nehmen?«
»Ihn zu mir zu nehmen?«
»Ja, ihm eine Mutter zu sein. Seine Mutter zu sein. Wollen Sie ihn als Sohn annehmen?«
»Ich verstehe nicht. Ich verstehe wirklich gar nichts. Machen Sie den Vorschlag, dass ich Ihren Jungen adoptieren soll?«
»Nicht adoptieren. Seine Mutter sein, seine vollwertige Mutter. Jeder von uns hat nur eine Mutter. Wollen Sie ihm diese einzige Mutter sein?«
Bis hierher hat sie ihm aufmerksam zugehört. Aber nun fängt sie an, sich etwas verzweifelt umzuschauen, als hoffe sie, dass jemand – der Pförtner, einer ihrer Tennispartner, irgendjemand – ihr zu Hilfe kommt.
»Was ist mit seiner richtigen Mutter?«, fragt sie. »Wo ist sie? Lebt sie noch?«
Er hatte geglaubt, der Junge wäre zu beschäftigt mit den Goldfischen, um zuzuhören. Aber jetzt meldet er sich plötzlich: »Sie ist nicht tot!«
»Wo ist sie dann?«
Das Kind schweigt. Eine Weile schweigt auch er. Dann spricht er. »Glauben Sie mir bitte – nehmen Sie mein Wort – das ist keine einfache Angelegenheit. Der Junge ist ohne Mutter. Was das bedeutet, kann ich Ihnen nicht erklären, weil ich es mir selbst nicht erklären kann. Aber ich verspreche Ihnen, wenn Sie einfach Ja sagen, ohne vorherige oder nachträgliche Überlegung, wird Ihnen alles klar werden, klar wie der Tag, das glaube ich jedenfalls. Also: Wollen Sie dieses Kind als das Ihre annehmen?«
Sie schaut auf ihr Handgelenk, an dem sich keine Armbanduhr befindet. »Es wird spät«, sagt sie. »Meine Brüder werden auf mich warten.« Sie dreht sich um und geht mit großen Schritten schnell in Richtung der Residenz, ihr Rock fegt dabei durch das Gras.
Er läuft ihr hinterher. »Bitte!«, sagt er. »Einen Augenblick noch. Hier. Lassen Sie mich seinen Namen aufschreiben. Er heißt David. Das ist der Name, unter dem er bekannt ist, der Name, der ihm im Lager gegeben wurde. Und das ist, wo wir wohnen, direkt am Stadtrand, in der Ost-Vorstadt. Denken Sie bitte darüber nach.« Er drückt ihr den Zettel in die Hand. Dann ist sie fort.
»Will sie mich nicht?«, fragt das Kind.
»Natürlich will sie dich. Du bist so ein hübscher, kluger Junge, wer würde dich nicht wollen? Aber sie muss sich zuerst an den Gedanken gewöhnen. Wir haben den Samen in sie gelegt; jetzt müssen wir geduldig sein und ihm Zeit zum Wachsen lassen. Solange ihr, du und sie, euch gern habt, wird er gewiss wachsen und zur Entfaltung kommen. Du hast doch die Frau gern, nicht wahr? Du merkst, wie freundlich sie ist, freundlich und lieb.«
Der Junge schweigt.
Als sie den Weg zurück zur Endhaltestelle gefunden haben, ist es beinah schon dunkel. Im Bus schläft der Junge in seinen Armen ein; er muss ihn schlafend von der Haltestelle zur Wohnung tragen.
Mitten in der Nacht wird er aus einem tiefen Schlaf gerissen. Es ist der Junge, der an seinem Bett steht, Tränen laufen ihm übers Gesicht. »Ich habe Hunger!«, wimmert er.
Er steht auf, macht etwas Milch warm, schmiert Butter auf eine Scheibe Brot.
»Werden wir dort wohnen?«, fragt der Junge mit vollem Mund.
»In La Residencia? Kaum. Ich hätte dort nichts zu tun. Ich würde werden wie eine von den Bienen, die nur am Bienenstock herumlungern und auf Mahlzeiten warten. Aber wir können am Morgen darüber sprechen. Es hat überhaupt keine Eile.«
»Ich möchte nicht dort wohnen. Ich möchte hier wohnen, bei dir.«
»Niemand wird dich zwingen zu wohnen, wo du nicht willst. Jetzt wollen wir wieder ins Bett.«
Er sitzt beim Kind, streichelt es sanft, bis es eingeschlafen ist.
Ich möchte bei dir wohnen.
Wenn nun dieser Wunsch bittere Wahrheit wird? Ist er fähig, sowohl Vater als auch Mutter für das Kind zu sein, es zu einem guten Menschen zu erziehen, während er die ganze Zeit der Arbeit im Hafen nachgeht?
Er verflucht sich innerlich. Hätte er doch ihr Anliegen ruhiger, vernünftiger vorgebracht! Aber nein, er musste sich benehmen wie ein Verrückter, die arme Frau mit seinen Bitten und Forderungen überfallen.
Nehmen Sie dieses Kind an! Seien Sie seine einzige Mutter!
Es wäre besser gewesen, wenn er einen Weg gefunden hätte, ihr den Jungen in den Arm zu geben, Körper an Körper, Fleisch an Fleisch. Dann wären vielleicht
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