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Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Titel: Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.M. Coetzee
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Erinnerungen, tiefer als alle Gedanken, wieder wachgerufen worden und alles wäre gut gewesen. Aber leider kam er zu plötzlich für sie, dieser große Moment, wie er auch für ihn zu plötzlich gekommen war. Er war ihm plötzlich erschienen wie ein Stern, und er hatte versagt.

Zehn
    W ie sich jedoch herausstellt, ist nicht alles verloren. Als es gerade zwölf schlägt, kommt der Junge in einem Zustand großer Erregung die Treppe hochgelaufen. »Sie sind hier, sie sind hier!«, ruft er.
    »Wer ist hier?«
    »Die Dame von der Residencia! Die Dame, die meine Mutter sein wird! Sie ist mit einem Auto gekommen.«
    Die Dame, die an der Tür in einem ziemlich förmlichen dunkelblauen Kleid erscheint, mit einem seltsamen Hütchen samt einer kitschigen goldenen Hutnadel und – er traut seinen Augen nicht – weißen Handschuhen, als mache sie einen Besuch beim Rechtsanwalt, kommt nicht allein. Sie wird begleitet von dem hochgewachsenen jungen Mann, der es auf dem Tennisplatz so gekonnt mit zwei Gegnern aufgenommen hatte. »Mein Bruder Diego«, erklärt sie.
    Diego nickt ihm zu, sagt aber kein Wort.
    »Nehmen Sie bitte Platz«, sagt er zu seinen Gästen. »Wenn Sie nichts dagegen haben, auf dem Bett … Wir haben noch keine Möbel gekauft. Kann ich Ihnen ein Glas Wasser anbieten? Nein?«
    Die Dame aus La Residencia hockt neben ihrem Bruder auf dem Bett; sie zerrt nervös an ihren Handschuhen, räuspert sich. »Würden Sie bitte für uns wiederholen, was Sie gestern gesagt haben?«, sagt sie. »Fangen Sie am Anfang an, ganz am Anfang.«
    »Wenn ich ganz am Anfang anfinge, würden wir den ganzen Tag brauchen«, antwortet er und versucht, entschlossen und vor allem vernünftig zu klingen. »Lassen Sie mich lieber Folgendes sagen. Wir, David und ich, sind hierhergekommen wie alle anderen auch, für ein neues Leben, einen neuen Anfang. Was ich für David will, was auch David will, ist ein normales Leben, wie das jedes jungen Menschen. Aber – das ist selbstverständlich – um ein normales Leben zu führen, braucht er eine Mutter, muss er einer Mutter geboren werden, sozusagen. Habe ich nicht recht?«, sagt er, an den Jungen gewandt. »Das willst du doch. Du willst deine eigene Mutter.«
    Der Junge nickt nachdrücklich.
    »Ich bin immer sicher gewesen – fragen Sie mich nicht, warum –, dass ich Davids Mutter erkennen würde, wenn ich sie sehe; und wo ich Ihnen nun begegnet bin, weiß ich, dass ich recht hatte. Es konnte kein Zufall sein, der uns zu La Residencia geführt hat. Eine Hand musste uns geführt haben.«
    Wie er sehen kann, wird Diego die harte Nuss sein, die es zu knacken gilt: Diego, nicht die Frau, deren Namen er nicht weiß und nicht erfragen will. Die Frau wäre nicht hier, wenn sie nicht bereit wäre, sich überreden zu lassen.
    »Eine unsichtbare Hand«, wiederholt er. »Wahrhaftig.«
    Diego durchbohrt ihn mit seinem Blick.
Lügner!
, sagt der.
    Er holt tief Luft. »Sie haben Zweifel, wie ich sehe.
Wie kann dieses Kind, das ich vorher nie gesehen habe, mein Kind sein?
, fragen Sie sich. Ich beschwöre Sie: Schieben Sie den Zweifel weg, hören Sie stattdessen auf das, was Ihr Herz Ihnen sagt. Schauen Sie ihn an. Schauen Sie den Jungen an. Was sagt Ihr Herz?«
    Die junge Frau bleibt die Antwort schuldig, schaut den Jungen überhaupt nicht an, sondern wendet sich zu ihrem Bruder, als wolle sie sagen:
Siehst du? Es ist, wie ich dir gesagt habe. Hör dir diesen unglaublichen, diesen verrückten Vorschlag von ihm an! Was soll ich tun?
    Mit gedämpfter Stimme spricht der Bruder. »Können wir irgendwo vertraulich miteinander reden, Sie und ich?«
    »Natürlich. Wir können nach draußen gehen.«
    Er führt Diego die Treppe hinunter, über den Hof, über den Rasen, zu einer Bank im Schatten eines Baumes. »Setzen Sie sich«, sagt er. Diego ignoriert die Einladung. Er setzt sich selbst. »Was kann ich für Sie tun?«, fragt er.
    Diego stützt sich mit einem Bein auf die Bank und beugt sich über ihn. »Zunächst einmal, wer sind Sie und warum sind Sie hinter meiner Schwester her?«
    »Wer ich bin, spielt keine Rolle. Ich bin nicht wichtig. Ich bin so etwas wie ein Diener. Ich kümmere mich um das Kind. Und ich bin nicht hinter Ihrer Schwester her. Ich bin hinter der Mutter des Kindes her. Das ist ein Unterschied.«
    »Wer ist das Kind? Wo haben Sie es aufgelesen? Ist er Ihr Enkel? Wo sind seine Eltern?«
    »Er ist nicht mein Enkel und auch nicht mein Sohn. Wir sind nicht verwandt. Wir sind durch einen Zufall auf dem

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