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Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Titel: Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.M. Coetzee
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Tor und klopft an einer Tür mit der Aufschrift
Una
. Keine Antwort. Er tritt ein.
    Er ist in einem Wartezimmer. Die Wände sind weiß tapeziert, mit einem Lyra-und Lilien-Motiv in Blassgrün. Verborgene Leuchtkörper strahlen weißes Licht diskret nach oben. Es gibt ein Sofa aus weißem Kunstleder und zwei Sessel. Auf einem Tischchen neben der Tür stehen ein halbes Dutzend Flaschen und verschiedenste Gläser.
    Er setzt sich und wartet. Die Minuten verstreichen. Er steht auf und schaut den Korridor entlang. Kein Lebenszeichen. Müßig untersucht er die Flaschen. Cream Sherry, Sherry dry. Wermut. Alkoholgehalt 4 %. Oblivedo. Wo liegt Oblivedo?
    Dann ist sie plötzlich da, noch immer in Tenniskleidung, kräftiger als sie auf dem Platz gewirkt hatte, beinah mollig. Sie trägt einen Teller, den sie auf den Tisch stellt. Ohne ihn zu begrüßen, setzt sie sich auf das Sofa, schlägt die Beine unter ihrem langen Rock übereinander. »Sie wollten mich sprechen?«, sagt sie.
    »Ja.« Sein Herz klopft schnell. »Danke, dass Sie gekommen sind. Ich heiße Simón. Sie kennen mich nicht, ich bin nicht wichtig. Ich komme im Namen einer anderen Person und überbringe einen Vorschlag.«
    »Möchten Sie sich nicht setzen?«, sagt sie. »Möchten Sie etwas essen? Ein Glas Sherry?«
    Mit zittriger Hand gießt er sich ein Glas Sherry ein und nimmt eines der dünnen dreieckigen Sandwiches. Gurke. Er setzt sich ihr gegenüber, kippt den süßen Wein hinunter. Er steigt ihm direkt in den Kopf. Die Anspannung löst sich und Worte kommen herausgestürzt.
    »Ich habe jemanden mitgebracht. Genaugenommen das Kind, das Sie auf dem Tennisplatz gesehen haben. Der Junge ist draußen und wartet. Der Pförtner wollte ihn nicht hereinlassen. Weil er ein Kind ist. Werden Sie mitkommen zu ihm?«
    »Sie haben ein Kind zu mir gebracht?«
    »Ja.« Er steht auf und gießt sich noch ein Glas von dem befreienden Sherry ein. »Entschuldigen Sie – das muss verwirrend sein, wenn Fremde einfach so kommen, ohne sich anzumelden. Aber ich kann Ihnen nicht sagen, wie wichtig es ist. Wir sind –«
    Ohne Vorwarnung geht die Tür plötzlich auf und der Junge steht selbst vor ihnen, außer Atem, keuchend.
    »Komm her«, winkt er den Jungen heran. »Erkennst du die Dame jetzt?« Er wendet sich an sie. Ihr Gesicht ist vor Schreck erstarrt. »Darf er Ihre Hand nehmen?« Und zum Jungen: »Komm, nimm die Hand der Dame.«
    Der Junge bleibt stocksteif stehen.
    Jetzt taucht der Pförtner selbst auf der Bildfläche auf, deutlich verärgert. »Entschuldigen Sie, mein Herr«, sagt er, »aber das ist gegen die Vorschriften, wie ich Ihnen gesagt habe. Ich muss Sie bitten zu gehen.«
    Er wendet sich hilfesuchend an die Frau. Bestimmt muss sie nicht dem Pförtner und seinen Vorschriften gehorchen. Doch sie äußert kein Wort des Protestes.
    »Geben Sie Ihrem Herzen einen Ruck«, sagt er zum Pförtner. »Wir sind weit gereist. Wenn wir uns nun alle in den Garten begeben würden? Wäre das immer noch gegen die Vorschriften?«
    »Nein. Aber beachten Sie, die Tore werden Punkt fünf Uhr geschlossen.«
    Er spricht zu der Frau. »Können wir in den Garten gehen? Bitte! Geben Sie mir eine Chance, es zu erklären.«
    Schweigend gehen die drei, der Junge an seiner Hand, über den Platz in den verwilderten Garten.
    »Das muss einmal ein großartiges Anwesen gewesen sein«, bemerkt er, versucht, die Atmosphäre zu klären und wie ein vernünftiger Erwachsener zu sprechen. »Schade, dass der Garten so vernachlässigt ist.«
    »Wir haben nur einen Vollzeitgärtner. Es ist zu viel für ihn.«
    »Und Sie selbst? Wohnen Sie hier schon lange?«
    »Schon eine Weile. Wenn wir dem Pfad da folgen, kommen wir zu einem Teich mit Goldfischen. Ihrem Sohn wird das vielleicht gefallen.«
    »Tatsächlich bin ich nicht sein Vater. Ich kümmere mich um ihn. Ich bin eine Art Beschützer. Vorübergehend.«
    »Wo sind seine Eltern?«
    »Seine Eltern … Das ist der Grund, weshalb wir heute hier sind. Der Junge hat keine Eltern, nicht auf die gewöhnliche Art. Es hat während der Fahrt hierher einen Zwischenfall auf dem Schiff gegeben. Ein Brief ging verloren, der möglicherweise alles erklärt hätte. Als Folge davon sind seine Eltern verloren, oder, genauer gesagt, ist er verloren. Er wurde von seiner Mutter getrennt und wir versuchen, sie zu finden. Die Sache mit seinem Vater ist eine andere.«
    Sie sind am versprochenen Teich angekommen, in dem tatsächlich Goldfische sind, kleine und große. Der Junge kniet

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