Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)
Schiff zusammengekommen, als er gewisse Dokumente verlor, die er bei sich führte. Aber warum sollte das eine Rolle spielen? Wir kommen hier an, wir alle, Sie, ich, Ihre Schwester, der Junge, reingewaschen von der Vergangenheit. Zufällig ist der Junge in meiner Obhut. Das ist vielleicht kein Schicksal, das ich mir ausgesucht habe, aber ich nehme es an. Mit der Zeit hat es sich ergeben, dass er sich auf mich verlässt. Wir haben inzwischen ein enges Verhältnis. Aber ich kann nicht alles für ihn sein. Ich kann nicht seine Mutter sein.
Ihre Schwester – leider weiß ich ihren Namen nicht – ist seine Mutter, seine natürliche Mutter. Ich kann nicht erklären, wie das geschieht, aber es ist so, so einfach ist das. Und in ihrem Herzen weiß sie das. Warum sonst ist sie heute hier, was glauben Sie? Äußerlich mag sie ruhig scheinen, aber hinter dem Äußeren erkenne ich, dass es sie begeistert, dieses große Geschenk, das Geschenk eines Kindes.«
»Kinder sind in La Residencia nicht zugelassen.«
»Keiner würde es wagen, eine Mutter von ihrem Kind zu trennen, egal was die Vorschriften sagen. Und Ihre Schwester muss ja auch nicht weiter in La Residencia wohnen. Sie könnte diese Wohnung hier übernehmen. Sie gehört ihr. Ich überlasse sie ihr. Ich finde eine andere Bleibe.«
Sich vorbeugend, als wolle er vertraulich mit ihm sprechen, verpasst ihm Diego einen plötzlichen Schlag gegen den Kopf. Schockiert versucht er sich zu schützen, als ihn ein zweiter Schlag trifft. Es sind keine heftigen Schläge, doch sie erschüttern ihn.
»Warum machen Sie das!«, ruft er, sich erhebend, aus.
»Ich bin kein Trottel!«, zischt Diego. »Hältst du mich für einen Trottel?« Wieder erhebt er drohend die Hand.
»Keinen Moment lang habe ich Sie für einen Trottel gehalten.« Er muss diesen jungen Mann beruhigen, der aufgebracht sein muss – und wer wäre das nicht? – bei dieser seltsamen Einmischung in sein Leben. »Es ist eine ungewöhnliche Geschichte, das gebe ich zu. Aber denken Sie doch einmal an das Kind. Seine Bedürfnisse haben Vorrang.«
Sein Appell bewirkt nichts: Diegos Blick ist noch genauso aggressiv wie zuvor. Er spielt seine letzte Karte aus. »Kommen Sie, Diego«, sagt er, »hören Sie auf Ihr Herz! Wenn guter Wille in Ihrem Herzen wohnt, dann werden Sie doch gewiss nicht einem Kind seine Mutter vorenthalten!«
»Es steht Ihnen nicht zu, meinen guten Willen anzuzweifeln«, sagt Diego.
»Dann beweisen Sie ihn! Kommen Sie mit mir zurück und beweisen Sie dem Kind, zu wieviel gutem Willen Sie in der Lage sind. Kommen Sie!« Und er steht auf und nimmt Diegos Arm.
Ein seltsames Schauspiel empfängt sie. Diegos Schwester kniet auf dem Bett und kehrt ihnen den Rücken zu, sie kniet rittlings über dem Jungen – der unter ihr flach auf dem Rücken liegt –, ihr Kleid ist hochgerafft und gestattet einen Blick auf ihre festen, ziemlich dicken Schenkel. »Wo ist die Spinne, wo ist die Spinne …?«, summt sie mit hohem, dünnem Stimmchen. Ihre Finger wandern seine Brust hinunter zur Gürtelschnalle; sie kitzelt ihn, bis er sich in hilflosem Gelächter krümmt.
»Wir sind wieder da«, verkündet er mit lauter Stimme. Sie krabbelt mit gerötetem Gesicht vom Bett.
»Inés macht mit mir ein Spiel«, sagt der Junge.
Inés! So heißt sie also! Und in dem Namen ist das Wesen!
»Inés!«, sagt der Bruder und winkt sie schroff zu sich. Sie zieht ihr Kleid herunter und streicht es glatt, dann eilt sie ihm nach. Aus dem Korridor dringt wütendes Geflüster.
Inés kommt zurückmarschiert, den Bruder im Schlepptau. »Wir möchten, dass Sie alles noch einmal vorbringen«, sagt sie.
»Sie wollen, dass ich meinen Vorschlag wiederhole?«
»Ja.«
»Nun gut. Ich mache den Vorschlag, dass Sie Davids Mutter werden. Ich gebe jeden Anspruch auf ihn auf (er hat einen Anspruch auf mich, aber das ist eine andere Sache). Ich werde jedes Papier unterschreiben, das Sie mir vorlegen, um das zu bestätigen. Sie können mit ihm als Mutter und Kind zusammenleben. Das kann geschehen, sobald Sie wollen.«
Diego schnaubt aufgebracht. »Das ist alles Blödsinn!«, ruft er aus. »Du kannst nicht die Mutter dieses Kindes sein, er hat schon eine Mutter, die Mutter, die ihn geboren hat! Ohne die Erlaubnis seiner Mutter kannst du ihn nicht adoptieren. Hör auf mich!«
Er wechselt einen stillen Blick mit Inés. »Ich will ihn«, sagt sie, nicht an ihn, sondern an den Bruder gewandt. »Ich will ihn«, wiederholt sie. »Aber wir können nicht
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