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Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Titel: Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.M. Coetzee
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entfernt gut sichtbar ist. Nach einer Weile erscheint die restliche Gruppe.
    Der Junge sieht ihn sofort. In seiner X -beinigen Art (er ist ein ungeschickter Läufer) kommt er über den Platz gelaufen. »Simón! Wir spielen jetzt Tennis!«, ruft er. »Willst du mitspielen?«
    Durch die Maschen des Zauns ergreift er die Finger des Jungen. »Ich bin kein guter Tennisspieler«, sagt er, »ich schaue lieber zu. Hast du Spaß? Kriegst du genug zu essen?«
    Der Junge nickt nachdrücklich. »Ich hatte Tee zum Frühstück. Inés sagt, ich bin groß genug, um Tee zu trinken.« Er dreht sich um und ruft laut: »Ich kann Tee trinken, stimmt’s, Inés?«, dann, ohne eine Pause zu machen, sprudelt er heraus: »Und ich habe Bolívar sein Futter gegeben, und Inés sagt, wir können nach dem Tennis mit Bolívar spazieren gehen.«
    »Bolívar, der Schäferhund? Sei bitte vorsichtig mit Bolívar. Reize ihn nicht.«
    »Schäferhunde sind die besten Hunde. Wenn sie einen Dieb erwischen, lassen sie nicht mehr los. Möchtest du sehen, wie ich Tennis spiele? Ich bin noch nicht sehr gut, ich muss erst noch üben.« Damit wirbelt er herum und läuft zu Inés und ihren Brüdern, die dastehen und sich beraten. »Können wir jetzt üben?«
    Sie haben ihn mit weißen Shorts ausgestattet. Mit der weißen Bluse ist er jetzt also ganz in Weiß, abgesehen von den blauen Schuhen mit den Riemchen. Aber der Tennisschläger, den sie ihm gegeben haben, ist viel zu groß – selbst mit zwei Händen kann er ihn kaum schwingen.
    Bolívar, der Schäferhund, schleicht über den Platz und legt sich im Schatten hin. Bolívar ist ein Rüde, mit mächtigen Schultern und einer schwarzen Halskrause. Vom Aussehen nach ist er nicht weit entfernt von einem Wolf.
    »Komm her, Großer!«, ruft Diego. Er steht über dem Jungen, seine Hände umfassen die Hände des Jungen, die den Schläger halten. Der andere Bruder schlägt einen Ball. Zusammen holen sie aus; sauber treffen sie den Ball. Der Bruder schlägt noch einmal einen Ball. Wieder treffen sie ihn. Diego tritt zurück. »Ich kann ihm nichts beibringen«, ruft er seiner Schwester zu. »Er ist ein Naturtalent.« Der Bruder schlägt einen dritten Ball. Der Junge holt mit dem schweren Schläger aus, verfehlt den Ball und fällt beim Versuch fast vornüber.
    »Spielt, ihr beiden«, ruft Inés ihren Brüdern zu. »David und ich werden Bälle werfen.«
    Mit gekonnter Leichtigkeit spielen die beiden Brüder den Ball übers Netz hin und her, während Inés und der Junge hinter dem kleinen Holzpavillon verschwinden. Er,
el viejo
, der stille Zuschauer, wird einfach ignoriert. Man könnte nicht deutlicher unterstreichen, dass er unerwünscht ist.

Zwölf
    E r hat geschworen, seinen Kummer für sich zu behalten, aber als Álvaro zum zweiten Mal fragt, was aus dem Jungen geworden ist (»Ich vermisse ihn – wir alle vermissen ihn«), kommt die ganze Geschichte heraus.
    »Wir haben nach seiner Mutter gesucht und – sieh da! – wir haben sie gefunden«, sagt er. »Jetzt sind die beiden wieder vereint, und sie sind sehr glücklich miteinander. Leider ist bei dem Leben, das Inés für ihn im Sinn hat, nicht das Herumhängen mit Männern im Hafen inbegriffen. Inbegriffen sind nette Kleidung, gute Manieren und regelmäßige Mahlzeiten. Wogegen nichts einzuwenden ist, schätze ich.«
    Natürlich ist dagegen nichts einzuwenden. Welches Recht hat er, sich zu beklagen?
    »Das muss ein ganz schöner Schlag für dich gewesen sein«, sagt Álvaro. »Der Junge ist etwas Besonderes. Jeder kann das sehen. Und ihr beiden hattet ein enges Verhältnis.«
    »Ja, wir hatten ein enges Verhältnis. Aber es ist nicht etwa so, dass ich ihn nicht wiedersehen werde. Es ist nur, dass seine Mutter das Gefühl hat, er und sie werden ihre Bindung leichter wiederherstellen, wenn ich eine Weile nicht auf der Bildfläche erscheine. Und auch dagegen ist nichts einzuwenden.«
    »In der Tat«, sagt Álvaro. »Aber es setzt sich über die Bedürfnisse des Herzens hinweg, oder?«
    Die Bedürfnisse des Herzens
: Wer hätte gedacht, dass Álvaro eine solche Redeweise zur Verfügung steht? Ein Mann stark und treu. Ein Kamerad. Warum kann er Álvaro nicht sein Herz ausschütten, ganz offen sein? Aber nein: »Ich habe kein Recht, Forderungen zu stellen«, hört er sich sagen.
Heuchler!
»Außerdem stehen die Rechte des Kindes immer über den Rechten der Erwachsenen. Ist das nicht ein Rechtsprinzip? Die Rechte des Kindes als Zukunftsträger.«
    Álvaro bedenkt ihn mit

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