Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)
einem zweifelnden Blick. »Von einem solchen Prinzip habe ich nie gehört.«
»Dann ein Naturgesetz. Blut ist dicker als Wasser. Ein Kind gehört zu seiner Mutter. Besonders ein kleines Kind. Im Vergleich dazu sind meine Ansprüche sehr abstrakt, sehr künstlich.«
»Du liebst ihn. Er liebt dich. Das ist nicht künstlich. Das Gesetz ist künstlich. Er sollte bei dir sein. Er braucht dich.«
»Das ist freundlich, dass du das sagst, Álvaro, aber braucht er mich wirklich? Vielleicht ist die Wahrheit, dass ich derjenige bin, der ihn braucht. Vielleicht stütze ich mich mehr auf ihn als er sich auf mich. Wer weiß denn übrigens, wie wir die erwählen, die wir lieben? Es ist alles ein großes Geheimnis.«
An diesem Nachmittag bekommt er überraschend Besuch: Fidel kommt auf seinem Fahrrad im Hafen an und bringt einen Zettel mit einer gekritzelten Botschaft:
Wir haben dich erwartet. Hoffentlich ist nichts passiert. Möchtest du heute Abend zum Essen kommen? Elena.
»Richte deiner Mutter aus:
Danke, ich komme
«, sagt er zu Fidel.
»Ist das deine Arbeit?«, fragt Fidel.
»Ja, damit bin ich beschäftigt. Ich helfe, Schiffe wie dieses da zu be-und entladen. Leider kann ich dich nicht mit an Bord nehmen, es ist ein bisschen gefährlich. Vielleicht später einmal, wenn du älter bist.«
»Ist es eine Galeone?«
»Nein, es hat keine Segel, also kann es keine Galeone sein. Es wird von Kohle angetrieben. Das heißt, es verheizt Kohle, um die Maschinen anzutreiben, die es bewegen. Morgen werden sie Kohle für die Rückreise laden. Das geschieht auf Kai Zehn, nicht hier. Damit habe ich nichts zu tun. Darüber bin ich froh. Es ist eine unangenehme Arbeit.«
»Warum?«
»Weil Kohlen überall auf dir schwarzen Staub hinterlassen, selbst in den Haaren. Auch weil Kohle sehr schwer für die Träger ist.«
»Warum kann David nicht mit mir spielen?«
»So ist es nicht, Fidel. Es ist nur, dass seine Mutter ihn für eine Weile ganz für sich haben möchte. Sie hat ihn lange nicht gesehen.«
»Ich dachte, du hast gesagt, sie hat ihn nie gesehen.«
»Sozusagen. Sie hat ihn im Traum gesehen. Sie wusste, dass er kommt. Sie hat auf ihn gewartet. Jetzt ist er da, und sie ist überglücklich. Ihr Herz ist voll.«
Der Junge schweigt.
»Fidel, ich muss jetzt wieder an die Arbeit. Ich komme heute Abend zu dir und deiner Mutter.«
»Heißt sie Inés?«
»Davids Mutter? Ja, sie heißt Inés.«
»Ich mag sie nicht. Sie hat einen Hund.«
»Du kennst sie nicht. Wenn du sie kennenlernst, wirst du sie mögen.«
»Nein. Es ist ein böser Hund. Ich habe Angst vor ihm.«
»Ich habe den Hund gesehen. Er heißt Bolívar, und ich stimme dir zu, du solltest dich von ihm fernhalten. Es ist ein Schäferhund. Schäferhunde neigen dazu, unberechenbar zu sein. Ich bin überrascht, dass sie ihn in die Siedlung mitgebracht hat.«
»Beißt er?«
»Nicht ausgeschlossen.«
»Und wo genau wohnst du jetzt«, fragt Elena, »da du deine nette Wohnung aufgegeben hast?«
»Ich hab’s dir doch gesagt: Ich habe mir ein Zimmer in der Nähe des Hafens genommen.«
»Ja, aber wo genau? In einer Pension?«
»Nein. Es ist egal, wo es ist oder was für ein Zimmer es ist. Für meine Zwecke ist es gut genug.«
»Hat es eine Kochgelegenheit?«
»Ich brauche keine Kochgelegenheit. Ich würde sie nicht benutzen, wenn ich sie hätte.«
»Du lebst also von Brot und Wasser. Ich dachte, du hättest Brot und Wasser satt.«
»Brot ist die Grundlage des Lebens. Wer Brot hat, leidet keinen Mangel. Elena, bitte hör mit dieser Ausfragerei auf. Ich bin sehr wohl in der Lage, für mich selbst zu sorgen.«
»Das bezweifle ich. Ich bezweifle es sehr. Können die Leute vom Aufnahmezentrum dir nicht eine neue Wohnung besorgen?«
»Soweit dem Zentrum bekannt ist, bin ich noch glücklich in meiner alten Wohnung untergebracht. Sie werden mir wohl kein zweites Domizil besorgen.«
»Und Inés – hast du nicht gesagt, dass Inés Zimmer in La Residencia hat? Warum kann sie mit dem Kind nicht dort wohnen?«
»Weil Kinder in La Residencia nicht gestattet sind. La Residencia ist eine Art Erholungsheim, so weit ich das mitbekommen habe.«
»Ich kenne La Residencia. Ich bin dort zu Besuch gewesen. Weißt du, dass sie einen Hund mitgebracht hat? Es ist eine Sache, einen kleinen Hund in einer Wohnung zu halten, aber das ist ein großer, mächtiger Wolfshund. Das ist nicht hygienisch.«
»Es ist kein Wolfshund, es ist ein Schäferhund. Ich gebe zu, dass er mich nervös macht. Ich
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