Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)
warum.«
»Natürlich. Ich bitte nicht darum zu bleiben. Meine neue Unterkunft ist richtig bequem.«
»Du bist vertrieben worden, nicht wahr? Aus deinem Heim. Das ist die Wahrheit, ich sehe es. Du Armer. Abgeschnitten von deinem Jungen, den du so sehr liebst.«
Er steht vom Tisch auf. »Es muss sein«, sagt er. »Das liegt in der Natur der Sache. Danke für das Essen.«
»Komm morgen wieder. Ich gebe dir zu essen. Das ist das mindeste, was ich tun kann. Dir zu essen geben und dich trösten. Obwohl ich glaube, dass du einen Fehler gemacht hast.«
Er verabschiedet sich. Er sollte schnurstracks in sein neues Zuhause im Hafen. Aber er zögert, geht dann über den Hof, steigt die Treppe hoch und klopft leise an die Tür seiner alten Wohnung. Unter der Tür schimmert Licht durch: Inés muss noch auf sein. Nachdem er lange gewartet hat, klopft er erneut. »Inés?«, flüstert er.
Eine Handbreit von ihm auf der anderen Seite hört er sie: »Wer ist da?«
»Simón. Kann ich reinkommen?«
»Was wollen Sie?«
»Kann ich ihn sehen? Nur ganz kurz.«
»Er schläft.«
»Ich wecke ihn nicht auf. Ich möchte ihn nur sehen.«
Stille. Er klinkt an der Tür. Sie ist verschlossen. Kurz darauf wird das Licht ausgeschaltet.
Elf
M it seiner Einquartierung im Hafen verstößt er möglicherweise gegen irgendeine Vorschrift. Das beunruhigt ihn nicht. Er will jedoch nicht, dass es Álvaro mitbekommt, weil durch seine Herzensgüte Álvaro sich dann verpflichtet fühlen würde, ihm ein Zuhause anzubieten. Deshalb versteckt er jeden Morgen, ehe er den Schuppen verlässt, seine wenigen Habseligkeiten sorgfältig zwischen den Dachsparren, wo man sie nicht sehen kann.
Ordentlich und sauber zu bleiben, ist ein Problem. Zum Duschen geht er in die Turnhalle in der Ostsiedlung; er wäscht seine Sachen per Hand und hängt sie auf die Wäscheleinen dort. Dabei hat er keine Bedenken – schließlich wird er noch als Bewohner geführt – aber aus Vorsicht kommt er nur nach Einbruch der Dunkelheit, weil er nicht mit Inés zusammentreffen will.
Es vergeht eine Woche, in der er seine ganze Energie in die Arbeit steckt. Dann am Freitag, als er die Taschen voller Geld hat, klopft er an der Tür seiner alten Wohnung.
Die Tür wird von einer lächelnden Inés aufgerissen. Ihr Gesicht zieht sich bei seinem Anblick in die Länge. »Oh, Sie sind es«, sagt sie. »Wir sind gerade im Aufbruch.«
Hinter ihr taucht der Junge auf. Er sieht irgendwie merkwürdig aus. Nicht nur, dass er ein neues weißes Hemd trägt (eigentlich mehr Bluse als Hemd – es hat vorn Rüschen und hängt ihm über die Hose), er klammert sich an Inés’ Rock, erwidert seinen Gruß nicht und starrt ihn mit großen Augen an.
Ist etwas passiert? War es ein katastrophaler Fehler, ihn an diese Frau zu übergeben? Und warum duldet er diese exzentrische, mädchenhafte Bluse – er, dem sein Outfit als kleiner Mann so wichtig war, sein Mantel und seine Mütze und seine Schnürstiefel. Denn die Stiefel sind auch fort, wurden durch Schuhe ersetzt – blaue Schuhe mit Riemchen statt Schnürsenkeln und mit Messingknöpfen an der Seite.
»Dann hab ich Glück gehabt, dass ich euch noch angetroffen habe«, sagt er und versucht, seine Stimme unbeschwert klingen zu lassen. »Ich bringe den versprochenen Heizstrahler.«
Inés wirft einen misstrauischen Blick auf den kleinen Strahler mit einem Heizstab, den er ihr hinhält. »In La Residencia gibt es in jeder Wohnung ein Kaminfeuer«, sagt sie. »Ein Mann bringt jeden Abend Holzscheite und macht das Feuer.« Nach einer gedankenverlorenen Pause: »Es ist wunderbar.«
»Das tut mir leid. Es muss einen Abstieg bedeuten, wenn man in der Siedlung wohnen muss.« Er wendet sich an den Jungen. »Du gehst also heute Abend aus. Und wohin gehst du denn?«
Der Junge antwortet nicht direkt, sondern blickt zu seiner neuen Mutter hoch, als wolle er sagen:
Sag du’s ihm
.
»Wir gehen fürs Wochenende zu La Residencia«, sagt Inés. Und wie zur Bestätigung kommt Diego, in weißer Tenniskleidung, den Korridor herauf.
»Das ist schön«, sagt er. »Ich dachte, Kinder seien in La Residencia nicht gestattet. Ich dachte, das sei die Vorschrift.«
»Das ist die Vorschrift«, sagt Diego. »Aber das Personal hat dieses Wochenende frei. Keiner ist da, um zu kontrollieren.«
»Keiner kontrolliert«, echot Inés.
»Nun, ich bin nur vorbeigekommen, um zu sehen, ob alles in Ordnung ist, und vielleicht etwas beim Einkauf zu helfen. Hier: ich habe einen kleinen
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