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Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Titel: Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.M. Coetzee
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einem bisschen Chaos hin und wieder, wenn daraus Gutes entsteht?«
    Elena zuckt mit den Schultern. »Ich möchte mich nicht streiten. Dein Sohn hat heute seinen Unterricht verpasst. Das ist nicht das erste Mal. Wenn er nicht weiter Musikunterricht haben will, teile es mir bitte mit.«
    »Das kann nicht länger ich entscheiden. Und noch einmal, er ist nicht mein Sohn, ich bin nicht sein Vater.«
    »Wirklich? Du leugnest es immer wieder, aber manchmal frage ich mich doch. Mehr sage ich nicht. Wo wirst du die heutige Nacht verbringen? Am Busen deiner neu gefundenen Familie?«
    »Nein.«
    »Möchtest du hier schlafen?«
    Er steht vom Tisch auf. »Danke, aber ich habe andere Vorkehrungen getroffen.«
    In Anbetracht dessen, dass die in der Dachrinne nistenden Tauben unablässig scharren und rascheln und gurren, schläft er in dieser Nacht recht gut auf seinem Lager aus Säcken in seinem kleinen Unterschlupf. Er beginnt den Tag ohne Frühstück, kann aber einen ganzen Tag arbeiten und sich am Ende wohlfühlen, wenn auch ein wenig ätherisch, ein wenig geisterhaft.
    Álvaro fragt nach dem Jungen, und Álvaros Anteilnahme bewegt ihn so, dass er für einen Moment geneigt ist, ihm die gute Nachricht zu erzählen, die Nachricht, dass die Mutter des Jungen gefunden wurde. Aber dann denkt er an Elenas Reaktion auf eben diese Nachricht, hält sich zurück und erzählt eine Lüge: David ist von seiner Lehrerin zu einer großen Musikveranstaltung mitgenommen worden.
    Eine Musikveranstaltung, sagt Álvaro, und sieht misstrauisch aus: Was ist das, und wo findet sie statt?
    Keine Ahnung, antwortet er und wechselt das Thema.
    Es wäre schade, scheint ihm, wenn der Junge die Verbindung zu Álvaro verlieren und seinen Freund El Rey, das Zugpferd, nie wieder sehen würde. Er hofft, dass Inés dem Jungen, wenn sie erst einmal die Verbindung mit ihm gefestigt hat, erlauben wird, den Hafen zu besuchen. Die Vergangenheit ist so von Wolken des Vergessens verhangen, dass er nicht mit Sicherheit sagen kann, ob seine Erinnerungen echte Erinnerungen sind, oder bloß Geschichten, die er erfindet; aber er weiß, dass es ihm als Kind gewiss gefallen hätte, wenn es ihm gestattet worden wäre, sich eines Morgens in der Gesellschaft von erwachsenen Männern auf den Weg zu machen und den Tag damit zu verbringen, ihnen beim Be-und Entladen großer Schiffe zu helfen. Eine Dosis Wirklichkeit kann nur gut für das Kind sein, scheint ihm, so lange die Dosis nicht zu plötzlich oder zu groß ist.
     
    Er hatte die Absicht gehabt, sich bei Naranjas Vorräte zu besorgen, aber er hat es zu lange aufgeschoben – als er endlich dort ankommt, ist das Geschäft geschlossen. Voller Hunger, und auch einsam, klopft er wieder an Elenas Tür. Die Tür wird von Fidel im Schlafanzug geöffnet. »Hallo Fidel, mein Junge«, sagt er, »darf ich reinkommen?«
    Elena sitzt am Tisch und näht. Sie begrüßt ihn nicht, hebt die Augen nicht von ihrer Arbeit.
    »Hallo«, sagt er. »Stimmt etwas nicht? Ist was passiert?«
    Sie schüttelt den Kopf.
    »David darf nicht mehr hierherkommen«, sagt Fidel. »Die neue Dame sagt, er kann nicht kommen.«
    »Die neue Dame«, sagt Elena, »hat verkündet, dass dein Sohn nicht mit Fidel spielen darf.«
    »Aber warum?«
    Sie zuckt mit den Schultern.
    »Gib ihr Zeit, sich einzugewöhnen«, sagt er. »Die Mutterrolle ist neu für sie. Natürlich ist sie zunächst etwas unberechenbar.«
    »Unberechenbar?«
    »Unberechenbar in ihren Urteilen. Überbesorgt.«
    »Gehört dazu, dass sie David verbietet, mit Freunden zu spielen?«
    »Sie kennt dich und Fidel nicht. Wenn sie dich erst einmal kennenlernt, wird sie sehen, welch guten Einfluss ihr habt.«
    »Und was wäre dein Vorschlag, wie sie uns kennenlernen soll?«
    »Ihr müsst doch einfach einmal aufeinandertreffen. Schließlich seid ihr Nachbarn.«
    »Warten wir’s ab. Hast du was gegessen?«
    »Nein. Die Geschäfte waren geschlossen, als ich hinkam.«
    »Du meinst Naranjas. Naranjas ist montags geschlossen, das hätte ich dir sagen können. Ich kann dir einen Teller Suppe anbieten, wenn dir Aufgewärmtes von gestern Abend nichts ausmacht. Wo wohnst du jetzt?«
    »Ich habe ein Zimmer in der Nähe des Hafens. Es ist etwas primitiv, aber für den Augenblick reicht es.«
    Elena wärmt die Suppe auf und schneidet Brotscheiben für ihn ab. Er versucht, langsam zu essen, obwohl er eigentlich einen Bärenhunger hat.
    »Über Nacht kannst du leider nicht bleiben«, sagt sie. »Du weißt schon,

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